Interview vor Hannover-Messe 22.04.2016 20:24:50

Siemens-Chef Kaeser will US-Industrie automatisieren

Joe Kaeser freut sich sichtlich auf die Hannover-Messe. Denn wenn die weltgrößte Industrieschau am Sonntag beginnt, will der Vorstandschef von Siemens dem diesjährigen Messe-Partnerland USA zeigen, wie Europas größter Industriekonzern dem Land bei der Renaissance seiner Industrie helfen kann. "Wenn Sie Digitalisierung erleben wollen, wenn Sie sehen wollen, wie sie funktioniert, dann müssen Sie zu Siemens auf die Hannover-Messe gehen", sagte Kaeser bei einem Interview mit dem Wall Street Journal in der Münchener Zentrale am Wittelsbacher Platz.

   Einer der Gäste auf dem 3.500 Quadratmeter großen Messestand von Siemens könnte US-Präsident Barack Obama sein, der am Sonntag zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel die Industrieschau eröffnen wird. Sollte er tatsächlich auf dem Stand von Siemens vorbeischauen, hat Kaeser schon einen Wunsch: "Was ich am Ende seines Besuchs erreicht haben möchte, ist, dass er sagt: 'Wow, so sieht Digitalisierung also in der Praxis aus.'"

Unternehmen erwarten fast 500 Milliarden US-Dollar mehr Umsatz Für Siemens hat die Hannover-Messe schon immer eine große Bedeutung. Siemensianer nennen sie intern schon gerne mal ihre "Hausmesse", denn nirgendwo sonst trifft Siemens so viele seiner industriellen Kunden wie in Hannover. Über 200.000 Besucher zählt die Messe in guten Jahren, kaum einer der Besucher wird den Stand von Siemens übersehen. Erst 2014 wurde die Ausstellungsfläche der Münchener um knapp 40 Prozent auf das heutige Ausmaß ausgedehnt: Es ist der größte Messestand in Hannover und der größte Stand, den Siemens auf irgendeiner Messe in der Welt aufbaut. Und nachdem die Messe einige Jahre lang in der öffentlichen Wahrnehmung an Bedeutung verlor, sorgt die Vernetzung von Maschinen über das Internet dafür, dass Hannover zuletzt wieder stärker im Fokus der Öffentlichkeit steht.

   Nicht nur Siemens wittert dabei Geschäft. Nach einer Umfrage von PricewaterhouseCooper (PwC) unter mehr als 2.000 Unternehmen in 26 Ländern rechnet sich die Industrie künftig jährlich fast 500 Milliarden US-Dollar an zusätzlichem Umsatz und mehr als 400 Milliarden Dollar an Kosteneinsparungen aus. "Die Digitalisierung ist in der Industrie angekommen, und sie wird hier bleiben. Und für die Unternehmen stellt sie vielfach einen Quantensprung, eine echte Revolution dar", so PwC-Partner Reinhard Geissbauer jüngst bei der Vorstellung der Studie.

   Deutschland und die USA spielen dabei nach einer Umfrage des Branchenverbands Bitcom unter mehr als 500 Managern wichtiger Industrieunternehmen die führende Rolle, wenn es um das Industrial Internet, also die Digitalisierung und Vernetzung von Maschinen geht. Für Siemens ist es aber auch noch aus einem anderen Grund ein glücklicher Zufall, dass in diesem Jahr die USA Partnerland der Hannover-Messe ist: Siemens setzt in den USA mehr als 15 Milliarden US-Dollar jährlich um, fast 20 Prozent seines gesamten Umsatzes und mehr als irgendwo anders auf der Welt.

Die USA sind der wichtigste Markt für Siemens Die Münchener haben in den USA mehr als 35 Milliarden US-Dollar in den letzten 15 Jahren investiert und hoffen darauf, dass sich diese Investitionen auszahlen. Für Kaeser sind die Vorzeichen dazu so günstig wie lange nicht mehr: "Das Land erholt sich gerade von einem unglücklichen Trend, industrielle Fertigung aufzugeben zugunsten des Finanz- und des Dienstleistungssektors", sagt Kaeser. Jetzt hätten die USA eingesehen, wie wichtig es sei, eine industrielle Basis zu haben.

   "Es geht dabei nicht so sehr darum, industrielle Produktion zurückzuholen und das Land zu reindustrialisieren", sagt Kaeser. "Es geht vielmehr darum zu modernisieren, was das Land ohnehin schon hat." Und genau dabei wird "Industrie 4.0", also die Digitalisierung und Automatisierung von Fertigungsprozessen, eine entscheidende Rolle spielen. Erst im Oktober stellte die ARC Advisory Group, eine Beratungsfirma im Technologiesektor, in einer Studie fest, dass die US-Industrie dringend ein "Upgrade" benötigt: Automatisierungssysteme im Wert von 65 Milliarden US-Dollar erreichen demnach das Ende ihres Lebenszyklus und müssen demnächst ersetzt werden. Und das Durchschnittsalter der in der Industrie eingesetzten Maschinen ist so hoch wie seit 1938 nicht mehr, so das Ergebnis einer Studie von Morgan Stanley aus dem Jahr 2014.

   Reichlich Potenzial für gute Geschäfte also für den Münchener Industriekonzern, der Weltmarktführer auf dem Gebiet elektronischer Steuerung von Fertigungsprozessen ist. "Die USA sind ein phantastischer Ort, um Geschäfte zu machen", sagt Kaeser. Denn Siemens sei "das einzige Unternehmen auf der Welt, das seinen Kunden eine vollumfassende Elektrifizierung und Automatisierung" anbieten könne. "Wir wissen, was Automatisierung bedeutet. Wir können zum Beispiel die vollständigen Produktionsprozesse auf einem Ölfeld mit unserer Software simulieren."

Kaeser: Siemens ist besser als GE, Google oder SAP Und das wiederum ergebe Möglichkeiten, den Ablauf von Produktionsschritten zu verbessern und den Energieverbrauch so zu optimieren, dass Produktionsschritte mit hohem Energiebedarf dann durchgeführt werden, wenn Strom billig ist. "Das ist, was wir die digitale Fabrik nennen. Niemand anderes hat das." Kaeser ist dabei überzeugt, dass Siemens das besser kann als viele seiner Mitbewerber, darunter General Electric, die Ikone der US-Industrie. Nur Siemens biete Hardware und Software für die Automatisierung aus einer Hand, sagen die Münchener.

   Bei GE sieht man das naturgemäß ein wenig anders: Siemens könnte hier zwar einen Vorsprung haben, "aber dieser Vorsprung ist nicht mehr entscheidend", so ein Sprecher des US-Unternehmens. GE sei inzwischen besser bei der analytischen Verarbeitung großer Datenmengen für das Internet der Dinge, so der Sprecher weiter. Auf diesem Gebiet fühlt sich Siemens wiederum deutlich besser aufgestellt als etwa Google oder SAP. "Niemand kann vermutlich Daten besser analysieren als Google", räumt Kaeser ein. Aber "wenn Sie nicht wissen, wie Ihnen die Datenauswertung bei der Optimierung Ihrer Arbeitsabläufe mit Blick auf Elektrifizierung und Automatisierung weiterhilft, dann werden Sie es nicht schaffen, die Datenauswertung nutzbringend für das Geschäft zu machen."

   Die USA seien für Siemens trotz der namhaften Konkurrenz vor Ort "ein großartiger Ort, um Geschäfte zu machen", schwärmt Kaeser. Natürlich sei es auch großartig, in Ägypten oder dem Iran Geschäfte zu machen, und Siemens werde in der Region mit offenen Armen empfangen. Aber dort seien auch Risiken bei der Geschäftsabwicklung zu bedenken. "Wenn wir bei unseren Managementsitzungen über Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit sprechen, sprechen wir daher auch über die Frage: Ist es sicher, in einer bestimmten Region Geschäfte zu machen?"

Siemens bleibt für weiteren Jahresverlauf optimistisch Auch nach der Hannover-Messe bleibt Kaeser für den weiteren Jahresverlauf optimistisch. "Wir werden dieses Jahr wachsen, anders als die meisten unserer Mitbewerber." An den Erwartungen des Unternehmens habe sich nichts geändert. "Das größte Einzelrisiko für uns -- und im übrigen auch für die Weltwirtschaft -- besteht in der weiteren Entwicklung der geopolitischen Krisenherde." Für Siemens bestehe das Risiko vor allem darin, dass sich das Investitionsklima eintrüben könne. Wer vor der Entscheidung stehe, ob er in seinen Fertigungs- oder Fuhrpark investieren soll, könnte angesichts der weltweiten Krisenherde derzeit geneigt sein, mit der Investition etwas warten zu wollen. "Die Stimmung beeinflusst Investitionsentscheidungen", heißt das bei Kaeser.

   Kehrt bei Siemens jetzt Ruhe ein? Für Kaeser ist Ruhe im Unternehmen wichtig, sie darf aber nicht Stillstand bedeuten. "Sie können nicht fünf Jahre lang gar nichts tun und dann einen riesigen Unternehmensumbau anstoßen. Das ist ein dauerhaftes Unterfangen." Etwas geärgert hat er sich in diesem Zusammenhang, dass bei der Anfang März aufgekommenen Diskussion über Stellenstreichungen in Deutschland kaum über die gleichzeitig angekündigten Neueinstellungen gesprochen worden sei. "Alles, was ich lesen konnte, war: Kaeser streicht weitere 2.000 Stellen. Das stimmt so nicht. Ich richte unsere Ressourcen auf die Zukunft aus."

   Anfang März hatte Siemens angekündigt, wegen der schwierigen Situation im Geschäft mit Prozessindustrie und Antrieben etwa 1.000 Stellen in diesem Bereich zu streichen und weitere 1.000 Stellen an andere Standorte zu verlegen. Gleichzeitig rechnet der Industriekonzern aber damit, durch den Wandel zum digitalen Industriegeschäft in den kommenden Jahren weltweit mehr als 25.000 neue Mitarbeiter einzustellen, darunter etwa 3.000 Mitarbeiter in Deutschland. Kaeser legte jetzt nach: "Um uns auf Automatisierung und Digitalisierung vorzubereiten, werden wir in den nächsten drei Jahren mehr als 30.000 Mitarbeiter pro Jahr neu einstellen, darunter mindestens 3.000 in Deutschland."

Ein "Brexit" wäre für Siemens kein Problem (MORE TO FOLLOW) Dow Jones Newswires

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   Wenig neues ließ sich Kaeser zu einem möglichen Börsengang des Geschäftsbereichs Healthcare entlocken, der von Siemens inzwischen als eigenständige Einheit geführt wird. Auch wenn keine Entscheidung in die eine oder andere Richtung gefallen sei: Siemens habe sich alle Optionen für das Geschäft offen gehalten. Das Timing eines möglichen Börsengangs sei für ihn daher zweitrangig. "Wir haben die Ausgliederung gemacht. Jetzt bin ich bereit. Wenn es sein muss, könnten wir morgen beginnen. Und wenn es nicht sein muss, prima -- auch kein Problem."

   Ein möglicher "Brexit", also das Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union, bereitet Kaeser in seiner Funktion als Vorstandschef von Siemens keine schlaflosen Nächte. "Wir sind hochgradig vor Ort vertreten, es ist unser viertgrößtes Land." Wenn Großbritannien aus der EU ausscheide, spiele das für Siemens keine entscheidende Rolle. "Aber Europa würde eine historische Chance verspielen, sich als dritte Kraft neben China und den USA zu etablieren."

Kontakt zum Autor: klaus.brune@wsj.com DJG/kgb/kla

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