17.06.2014 18:36:31
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Gabriels Vorstoß zur Defizitberechnung sorgt für Kontroverse
Von Andreas Kißler
BERLIN--Am Montag sorgte SPD-Chef Sigmar Gabriel mit seinem Vorschlag für Aufregung, die Kosten für Reformen aus der Berechnung der Staatsdefizite auszuklammern. Der Vizekanzler wolle die Defizitkriterien oder den Sparkurs in Südeuropa lockern, mutmaßten einige Beobachter und warnten vor einer Aufweichung des europäischen Stabilitätspaktes. Ausgerechnet aus der Ecke der sonst eher zurückhaltenden Volkswirte bekommen sie jetzt Unterstützung.
Ökonomen werden seit langem nicht müde, eine strikte Einhaltung des Paktes einzufordern, mit dem Europa einen langfristigen Abbau seiner zu hohen Verschuldung erreichen will. Viele Volkswirte der Wirtschaftsforschungsinstitute sind aber gegen eine Änderung der Defizitberechnung, auch wenn sie gleichzeitig die Bedeutung von Reformmaßnahmen durch die Euro-Staaten betonen.
Die Drei-Prozent-Regel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sei keine starre Regel, die Reformen verhindere, sagte der Chefökonom des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Oliver Holtemöller, dem Wall Street Journal Deutschland. "Der gegenwärtige Mechanismus fördert vielmehr das Ergreifen von Reformen."
So habe die EU-Kommission Frankreich vergangenes Jahr die Frist zur Erreichung der Defizitgrenze bis 2015 gegen Reformmaßnahmen verlängert. "Demgegenüber würde das Herausrechnen von Reformkosten die Berechnungsgrundlage lediglich verwässern, aber keinen zusätzlichen Anreiz zu Reformmaßnahmen liefern," warnte Holtemöller.
Michael Bräuninger, Konjunkturchef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), nannte eine Herausrechnung von Reformen "höchst problematisch, weil es sehr schwierig zurechenbar ist, und weil man nicht genau sagen kann, was denn die Kosten von Reformen eigentlich sind". Deshalb sei eine solche Änderung "äußerst fragwürdig", meinte er.
Die EU-Kommission könne bereits jetzt Reformanstrengungen mit einer politischen Bewertung würdigen und müsse nicht gleich zwingend mit Sanktionen auf Defizitverstöße reagieren. "Eine gewisse Flexibilität gibt es ohnehin, und ich sehe keinen Grund, dass man Ausnahmeregelungen definiert", sagte Bräuninger.
Es gibt allerdings auch andere Stimmen in der Ökonomenwelt. Die EU-Krisenländer, aber auch Frankreich, verfehlten ihre Defizitvorgaben, denn sie könnten oder wollten ihre Budgets angesichts der tiefen Krise nicht so schnell sanieren, betonte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. "Gabriels Vorschlag, höhere Defizite zuzulassen, aber eng an Reformen zu knüpfen, ist daher richtig", meinte der DIW-Chef.
Die von Gabriel aufgegriffene Forderung hat in der SPD und ihrer europäischen Parteifamilie aber eine lange Tradition und viele Fürsprecher - zuletzt mit Frankreichs Staatspräsidenten Francois Hollande und Italiens Ministerpräsidenten Matteo Renzi zwei besonders bedeutende.
Jedoch gibt es im europäischen Regelwerk im Prinzip schon längst eine weitgehende Flexibilität, weshalb die EU-Kommission ja gerade Frankreich mehr Zeit für den Defizitabbau einräumte. Der europäische Kontrollmechanismus funktioniert im Prinzip so, betonte Holtemöller: Eine Überschreitung der Defizitgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes führt in Brüssel zu einem Verfahren, und es folgen Sanktionen, falls Reformschritte zur Einhaltung der Grenze unterbleiben.
Deshalb stellt sich die Frage, warum der SPD-Chef die Debatte ausgerechnet jetzt wieder aufwärmt. Eine Antwort darauf liegt nah: Gabriel unternahm seinen europapolitischen Verstoß bei Airbus in Toulouse, dem europäischen Vorzeigeprojekt, dem sich vor allem Deutschland und Frankreich in enger Zusammenarbeit verschrieben haben. Und sein Appell richtete sich offenbar weniger an die übrigen EU-Länder als an den Nachbarn Frankreich, der bei allen Forderungen nach mehr Flexibilität wissen muss: mehr Zeit für die Einhaltung des Defizits soll es nur mit Reformen bekommen.
Allerdings löste Gabriel damit eine Debatte in der Bundesregierung über den Stabilitätspakt aus, und sein Wirtschaftsministerium beeilte sich umgehend, diese Debatte wieder einzufangen. In Toulouse habe Gabriel es als eine Idee zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwäche bezeichnet, "die Kosten der Reformpolitik in den einzelnen Ländern nicht auf die staatlichen Defizite anzurechnen, um betroffenen Ländern mehr Zeit zur Sanierung zu geben", erklärte das Ministerium.
Und Ministeriumssprecher Tobias Dünow ruderte deutlich zurück: "Das Neue ist, es gibt nichts Neues", sagte er. "Gabriel denkt im Leben nicht daran, den Stabilitäts- und Wachstumspakt irgendwie zu modifizieren - weder dem Buchstaben noch dem Geiste nach." Der SPD-Chef plädiere für "konkrete verbindliche Reformen gegen Zeit", aber das erlaube der geltende Stabilitätspakt jetzt schon.
Dennoch provozierte der nach außen gerichtete Appell in der bundesdeutschen Politik eine Diskussion: Während die CSU Gabriel attackierte, sprang die Opposition in Gestalt der Grünen Gabriel sogar bei.
"Der einseitige Sparkurs hat zu mehr und nicht zu weniger Schulden geführt", erklärte der Grünen-Budgetexperte Sven-Christian Kindler. "Wir brauchen dringend mehr Investitionen in Europa: In Bildung und Forschung, in erneuerbare Energien und den ökologischen Umbau." Gabriels Vorstoß sei deshalb zu begrüßen. Jedoch müsse er jetzt konkrete Vorschläge auf den Tisch legen, forderte Kindler.
Einen genaueren Vorschlag des Wirtschaftsministers dazu soll es laut seinem Sprecher allerdings nicht geben.
Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com
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June 17, 2014 12:06 ET (16:06 GMT)
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