Märkte geschockt |
24.06.2016 09:42:00
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Der Brexit kommt: Die gesamte EU ist in Frage gestellt
Nach Angaben der Landeswahlleitung stimmten 51,9 Prozent der Briten für den so genannten Brexit. In Meinungsumfragen hatten bis zuletzt, wenn auch nur knapp, die Befürworter eines Verbleibs in der EU vorne gelegen. Darauf und auf die abschreckende Wirkung der einhelligen Warnungen von Ökonomen vor den Auswirkungen eines Brexit hatten sich die meisten Marktteilnehmer wohl verlassen. Umso extremer drohen nun die Reaktionen auszufallen.
Massive Verluste zu Handelsbeginn
An den asiatischen Aktienmärkten hat der sich im Laufe der Nacht immer deutlicher abzeichnende Brexit zu zum Teil heftigen Verlusten geführt. Der japanische Nikkei verlor 7,9 Prozent, die Börse Singapur sank um 2,2 Prozent, Hongkong um 4,4 Prozent, Seoul um 3,3 Prozent und Schanghai um 0,9 Prozent. Auch in Europa brechen die Märkte massiv ein, sowohl DAX als auch ATX verlieren deutlich. Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Diba: "Es sieht so aus, als ob Europas schlimmster Alptraum Wahrheit geworden ist." Die wirtschaftlichen und politischen Folgen für Europa werden seiner Ansicht nach noch lange zu fühlen sein. "Die erste Marktreaktion gibt schon einen guten Vorgeschmack. Es steht ein langer, schwieriger und dreckiger Scheidungsprozess an", sagte er.
Gabriel: "Schlechter Tag für Europa"
Bundeswirtschaftsminister Siegmar Gabriel sprach via Twitter von einem "schlechten Tag für Europa", Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier von einem "traurigen Tag für Europa und Großbritannien" und Ifo-Präsident Clemens Fuest forderte, nun müsse die Politik alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen.
Der wird nach Einschätzung internationaler Organisationen beträchtlich sein. Der Internationale Währungsfonds (IWF) listet unter den zu erwartenden Auswirkungen niedrigere Exporte, Investitionen, Produktivität und Löhne auf. Am schlimmsten für die britische Wirtschaft wäre laut IWF ein Szenario, in dem nach einem Brexit-Beschluss lange eine große Unsicherheit über die Außenhandelsbeziehungen Großbritanniens bestehen würde.
Internationale Institutionen warnen Großbritannien vor wirtschaftlichem Schaden
Je nach Schwere der Verunsicherung und Risikoaversion erwartet der IWF eine unterschiedlich starke Verringerung des Wirtschaftswachstums. Bei begrenzter Unsicherheit wird sich das Wachstum laut IWF 2016 auf 1,7 Prozent und 2017 auf 1,4 Prozent verringern, bei starker Unsicherheit werden 1,1 Prozent Wachstum für 2016 und sogar 1,1 Prozent Schrumpfung für 2017 unterstellt.
Nach Einschätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) würde ein Brexit in dem Land selbst, aber auch in anderen europäischen Staaten einen Finanzmarktschock auslösen, der ungefähr die Stärke des Schocks während der Euro-Krise 2011/2012 hätte.
Noch viel stärkere Ausstrahlungseffekte hätte ein Brexit, wenn er das Vertrauen in die Zukunft der EU insgesamt untergraben sollte. "In einem solchen Szenario würden die Aktienkurse weiter fallen und die Risikoprämien für Staats- und Unternehmensanleihen des Euroraums stärker steigen, was zu einer deutlicheren Verlangsamung des Wirtschaftswachstums führen würde", warnt die OECD.
Laut der Organisation könnte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Großbritanniens im Jahr 2030 bei einem Austritt um mehr als 5 Prozent niedriger ausfallen als bei einem Verbleib in der EU.
Pfund verliert 9 Prozent Außenwert
Die vor dem Referendum geäußerte Einschätzung der Bank of England (BoE), im Falle eines Brexit werde es zu einer scharfen Abwertung des Pfund Sterling kommen, hat sich inzwischen bestätigt. Das Pfund verlor seit Mitternacht rund 9 Prozent seines Außenwerts. Der Euro, das Symbol der europäischen Integration, gab um knapp 3 Prozent nach. Dagegen werteten als sichere Häfen geltende Währungen auf: der Schweizer Franken um knapp 2 Prozent und der Yen um gut 4 Prozent.
Der japanische Finanzminister Taro Aso bekräftigte die Bereitschaft seines Hauses, gegen eine weitere Aufwertung an den Devisenmärkten zu intervenieren. Um über eine konzertierte Reaktion der Zentralbanken zu reden, sei es aber zu früh, fügte er hinzu.
Der Gouverneur der Bank of Japan, Haruhiko Kuroda, verwies auf die Bereitschaft der großen Zentralbanken, einander im Notfall Liquidität über Kreditlinien zur Verfügung zu stellen. Die Bank of England erklärte, sie werde die Entwicklung genau beobachten und alle notwendigen Schritte unternehmen, um die britische Wirtschaft zu schützen und die finanzielle Stabilität sicherzustellen.
BoE-Gouverneur Mark Carney wird im Laufe des Vormittags eine Erklärung abgeben. Premierminister David Cameron, der das Brexit-Votum 2013 in Gang gesetzt hatte, kündigte seinen Rücktritt an.
Rechtspopulisten fordern EU-Referenden für Frankreich und Niederlande
In politischer Hinsicht könnte das Brexit-Vorum große Konsequenzen haben. Sowohl die Chefin des französischen Front National, Marine Le Pen, als auch der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders forderten EU-Referenden.
Neben der europäischen Integration könnte das Brexit-Votum zudem den Bestand Großbritanniens gefährden. Die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon sagte: "Schottland sieht seine Zukunft als Teil der EU." Die Bevölkerung dieses Landesteils hatte sich mit großer Mehrheit gegen einen Brexit ausgesprochen.
Gleiches gilt für Nordirland. Nach dem Votum der Briten für den Austritt aus der EU will die nordirische Partei Sinn Fein die Nordiren über eine Vereinigung mit Irland abstimmen lassen. Zur Begründung nannte Sinn-Fein-Chef Declan Kearney am Freitagmorgen, die von London aus regierten Nordiren hätten bei dem Referendum für den EU-Verbleib gestimmt. Der Norden werde allein durch das Abstimmungsergebnis in England aus der EU gedrängt.
FRANKFURT (Dow Jones)
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