Viele offene Fragen |
17.06.2020 17:52:00
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Wirecard-Aktie im Fokus: Krise ist... wenn der Staatsanwalt klingelt
DAS IST LOS BEI WIRECARD:
Es könnte so schön sein für Wirecard: Die Corona-Pandemie treibt die Menschen zum Online-Einkauf, und im Supermarkt verstärkt die Infektionsgefahr den Trend zur Kartenzahlung. Für den DAX-Konzern aus Aschheim bei München ist das praktisch eine Gelddruckmaschine - vor allem, wenn die Menschen ihr Verhalten nach der Pandemie beibehalten.
Doch während der Konzern mit seinen jüngsten Geschäftszahlen beeindruckt und trotz der Corona-Krise an seinen Jahreszielen festhält, richten sich die Augen von Anlegern und Analysten auf die Frage, ob bei dem Unternehmen alles mit rechten Dingen zugeht und ob der Vorstand seinen Laden eigentlich im Griff hat.
Dabei hatte Vorstandschef Markus Braun, der mit einem Aktienpaket von sieben Prozent der größte Anteilseigner des Konzerns ist, durch die im Oktober eingeläutete Sonderprüfung der Bücher für die Jahre 2016 bis 2018 mit dem Image des Dax-Schmuddelkindes eigentlich aufräumen wollen.
Gelungen ist ihm das nicht. Nun muss er sogar Macht im Unternehmen abgeben und entschuldigte sich bei Aktionären, Kunden, Partnern und Mitarbeitern für die Turbulenzen. Bedeutende Investoren hatten gar gefordert, das Aushängeschild des Tech-Konzerns solle seinen Posten räumen. Jetzt wird sich Braun vorwiegend um die Strategie kümmern, im Vorstand soll eine neue starke Person für das operative Geschäft und eine weitere für den Vertrieb installiert werden.
Seine rechte Hand Jan Marsalek, bisher für das Tagesgeschäft zuständig und ebenfalls stark in der Kritik, muss sich ebenfalls mit weniger Gewicht im Vorstand zufrieden geben. Das umstrittene Drittpartnergeschäft bleibt aber in seinen Händen. In der obersten Führungsebene soll zudem der Amerikaner James Freis die Einhaltung von Regeln überwachen.
Die KPMG-Prüfer konnten und wollten Wirecard nach monatelanger Prüfung nämlich an entscheidenden Stellen weder in Summe Unbedenklichkeit bescheinigen, noch attestierten sie rundweg Fehlverhalten. Viele Fragen blieben für sie nach eigener Darstellung offen: Wie steht es um die Existenz und Höhe der Umsätze aus dem großen Drittpartnergeschäft, über das Wirecard Geschäfte in Ländern ohne eigene Lizenz abwickelt? Warum gibt es für rund eine Milliarde Euro von Drittpartnern auf Treuhandkonten gezahlte Beträge keine ausreichenden Kontoauszüge? Wer ist der Begünstigte eines Unternehmenszukaufs in Indien?
Das große "Untersuchungshemmnis" lag für KPMG zwar darin, dass die Drittpartner zu wenig Daten preisgeben wollten. Die Prüfer monierten aber auch die "verzögerte Lieferung von Unterlagen" durch Wirecard selbst. Einzelne vereinbarte Interview-Termine mit wesentlichen Wirecard-internen Ansprechpartnern seien zudem mehrfach verschoben worden.
Zuletzt reichte es auch der deutschen Finanzaufsicht Bafin - und zwar wegen Ad-hoc-Mitteilungen, die Wirecard im März und April zum Thema Sonderprüfung verschickt hatte. Die Behörde, die Anfang 2019 sogar ein zweimonatiges Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien erlassen hatte und dem Dax-Konzern damit nach kritischen Berichten der "Financial Times" eher zur Seite gesprungen war, erstattete Anzeige gegen mehrere Vorstandsmitglieder. Anfang Juni durchsuchte die Staatsanwaltschaft die Geschäftsräume des Unternehmens.
Es bestehe der Verdacht, "dass die Verantwortlichen der Wirecard durch die Ad-hoc-Mitteilungen vom 12.03.20 und vom 22.04.20 irreführende Signale für den Börsenpreis der Aktien der Wirecard AG gegeben haben könnten", teilte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I mit. Stein des Anstoßes ist, dass Wirecard vor der Veröffentlichung des Sonderprüfungsberichts ausdrücklich betont hatte, dass sich keine Belege für eine Bilanzmanipulation ergeben hätten.
Wirecard betonte indes, dass sich die Ermittlungen "nicht gegen die Gesellschaft, sondern gegen ihre Vorstandsmitglieder" richteten. Der Vorstand sei zudem "zuversichtlich, dass der Sachverhalt sich aufklären wird und die Vorwürfe sich als unbegründet erweisen werden."
Im ersten Quartal bekam zwar auch Wirecard die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu spüren. So kam das Geschäft mit Fluggesellschaften und Reisebüros deutlich unter Druck, während der Online-Shoppingboom die Auswirkungen abfederte. Der Vorstand ging Mitte Mai aber nicht davon aus, dass die Krise einen nachhaltig negativen Effekt auf das Geschäft von Zahlungsabwicklern habe. Im laufenden Jahr will Wirecard weiterhin einen operativen Gewinn (Ebitda) von 1 bis 1,12 Milliarden Euro erreichen.
DAS MACHT DIE AKTIE:
Der Kurs der Wirecard-Aktie ist in den vergangenen Jahren Achterbahn gefahren. Wer dachte, Wirecards stetig wachsendes Geschäft mit Online- und Kartenzahlungen würde sich auch im Aktienkurs widerspiegeln, wurde seit Herbst 2018 eines Besseren belehrt. So legte die Wirecard-Aktie von Mitte 2017 bis Anfang September 2018 einen steilen Kursanstieg hin - von rund 55 Euro bis auf das Rekordhoch von 199 Euro. An dieser Marke konnte sie bis heute nicht einmal mehr kratzen.
Nach den Vorwürfen in der "Financial Times" stürzte der Kurs im Februar 2019 bis auf 86 Euro ab, um rund drei Monate später wieder kurzzeitig über 160 Euro zu springen. Schon im Dezember wurde das Papier wieder nur noch zu gut 100 Euro gehandelt. Dann sorgten die Corona-Krise und Wirecards Ad-hoc-Mitteilungen zur Sonderprüfung für weitere Turbulenzen.
So schoss der Aktienkurs nach der zweiten Mitteilung im April auf mehr als 140 Euro in die Höhe. Nach der Veröffentlichung des KPMG-Berichts und der Erkenntnis, dass die Wirtschaftsprüfer den Konzern nicht vollends von den Vorwürfen der Bilanzmanipulation entlastet sahen, kam das böse Erwachen. Bis Mitte Mai rutschte der Kurs um fast die Hälfte auf bis zu 72 Euro ab.
Zuletzt erholte er sich wieder und stieg bis auf rund 100 Euro. Damit ist das Unternehmen an der Börse rund zwölf Milliarden Euro wert. Für Investoren, die schon lange dabei sind, hat sich das Engagement trotz der jüngsten Turbulenzen bisher ausgezahlt. So stieg der Kurs die vergangenen fünf Jahre um 177 Prozent und seit Sommer 2010 verteuerte sich das Papier um mehr als 1100 Prozent.
DAS SAGEN ANALYSTEN:
Die Kurskapriolen und Ungereimtheiten bei Wirecard beschäftigen auch Finanzanalysten. Deren Einschätzungen unterscheiden sich allerdings deutlich - und das gilt auch für das Kurspotenzial, das sie der Aktie zuschreiben.
Von den 15 im dpa-AFX Analyser erfassten Branchenexperten, die ihre Einschätzungen seit Beginn der Corona-Krise im März erneuert haben, tendiert jedoch kein einziger dazu, sich von den Wirecard-Aktien zu trennen. Neun Analysten raten zum Halten, sechs zum Kauf der Papiere. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei rund 164 Euro. Allerdings reichen ihre Erwartungen von 80 bis 270 Euro.
Am pessimistischsten ist Wolfgang Donie von der NordLB. Das zerstörte Anlegervertrauen wieder herzustellen, dürfe für Wirecard ein Jahre dauernder Krafttakt werden, schrieb der Analyst Ende Mai, als er sein Kursziel von 102 auf 80 Euro zusammenstrich.
Die erneute Verschiebung der Bilanzvorlage sei "ärgerlich", sollte aber angesichts der zuvor erfolgten Sonderprüfung und diverser Einschränkungen durch die Corona-Krise nicht überbewertet werden. Sein Kollege Robert Lamb von der US-Bank Citigroup zog sein letztes Kursziel von 105 Euro hingegen ganz zurück - und verwies auf die laufenden juristischen Auseinandersetzungen des Wirecard-Konzerns.
Dagegen begrüßte David Vignon vom Investmenthaus Bryan Garnier die eingeleiteten Änderungen bei Wirecard im Sinne einer guten Unternehmensführung. Er rät weiterhin zum Kauf der Papiere und hat ein Kursziel von 190 Euro auf dem Zettel. Die aktuelle Bewertung der Aktie biete Anlegern ein "interessantes" Verhältnis von Chancen und Risiken. Auch Knut Woller von der Baader Bank hält die Wirecard-Aktie für erheblich unterbewertet - und sagt sogar einen Kursanstieg auf 240 Euro voraus.
Am Mittwoch gewannen Wirecard-Papiere im XETRA-Handel letztlich 5,08 Prozent auf 104,50 Euro.
ASCHHEIM (dpa-AFX)
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