13.11.2013 14:37:30

UPDATE: Wirtschaftsweise auf Gegenkurs zur Großen Koalition

   -- Sachverständigenrat warnt Große Koalition vor Schädigung des Wachstums

   -- Experten gegen Mindestlohn, Mietpreisbremse, Betreuungsgeld und Mütterrente

   -- Merkel will Mahnung ernst nehmen

   (NEU: komplett neu durchgeschrieben mit weiteren Aussagen und Reaktionen)

   Von Andreas Kißler

   BERLIN--Die fünf Wirtschaftsweisen sind nicht dafür bekannt, Regierungen nach dem Munde zu reden. Schon oft machten sie mit Vorschlägen auf sich aufmerksam, die von der Politik sogleich verworfen oder nie umgesetzt wurden. Doch so heftig wie dieses Jahr dürften sich die führenden deutschen Wirtschaftswissenschaftler kaum jemals auf Gegenkurs zur Mehrheitsmeinung der Politik begeben haben.

   Denn die Wirtschaftsweisen warnten ausdrücklich vor vielen Maßnahmen, die Union und SPD in den Verhandlungen für ihrer geplante Großen Koalition diskutieren. Von Wirtschaftsverbänden erhielten sie dafür ebenso Unterstützung wie vom Wirtschaftsflügel der Union. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gab sich bei der Entgegennahme des Kritikkatalogs zumindest bemüht.

   Konjunkturell deckt sich der Ausblick der fünf Wirtschaftsweisen in ihrem neuen Jahresgutachten fast mit dem der Regierung. Die Ökonomen erwarten für das Jahr 2014 ein Wachstum des deutschen Bruttoinlandsproduktes um 1,6 Prozent nach einer Steigerung von 0,4 Prozent in diesem Jahr. Die Regierung selbst hat erst vor drei Wochen 1,7 und 0,5 Prozent vorausgesagt.

   Doch gerade die positive Wirtschaftslage kann offenbar nach der Befürchtung der Wirtschaftswissenschaftler zum Bumerang bei den laufenden Koalitionsverhandlungen werden, in dem sie Forderungen nach mehr Ausgaben Vorschub leistet. "Die aktuelle wirtschaftliche Situation und die relativ gute Position Deutschlands im Vergleich zu den Krisenländern des Euro-Raums scheinen vielfach den Blick auf die großen zukünftigen Herausforderungen verstellt zu haben", kritisierten sie. Die starke wirtschaftliche Verfassung Deutschlands sei schon im Wahlkampf "von fast allen Parteien offenbar als gegeben eingeordnet" worden statt als Folge richtiger Reformen wie der Agenda 2010.

   Der Vorsitzende des Gremiums, Christoph M. Schmidt, erneuerte die Kritik bei der Übergabe des Gutachtens an Kanzlerin Merkel denn auch unverblümt. "Die konjunkturelle Lage ist gut, aber wir sind dennoch besorgt, ob die Weichen richtig gestellt werden", ließ der Präsident des Essener Forschungsinstituts RWI die Kanzlerin wissen.

   Merkel beteuerte zwar vor dem Hintergrund der laufenden Koalitionsverhandlungen, sie wolle das Gutachten "ernst" nehmen. "Das, was Sie über Presse und Funk vernehmen können, deutet ja darauf hin, dass es um einige der Punkte große Diskussionen, Debatten auch gibt", räumte sie ein. "Insofern kommt dieses Gutachten zu einem richtigen Zeitpunkt, denn wir können es als Grundlage für die Fragen nehmen, wie können wir weiter gute Arbeitsmarktpolitik machen, wie können wir weitere Arbeitsplätze schaffen."

   Allerdings blieb Merkel schon in ihrer Replik im Unkonkreten und ging auf keinen der Kritikpunkte direkt ein. Der Ansatz müsse es sein, das Wachstum zu stärken, postulierte sie lediglich.

   Das allerdings traf die Kritik der Wirtschaftsweisen im Grunde ganz genau - denn diese werfen Union und SPD vor, mit vielen ihrer geplanten Maßnahmen gerade das Wachstum zu schwächen. Viele der derzeit diskutierten Maßnahmen, wie etwa die Mütterrente, die Aufstockung von niedrigen Renten oder großzügige Ausnahmen von der Rente mit 67, gingen überwiegend zu Lasten kommender Generationen, warnten die fünf Weisen in ihrer gut 500 Seiten starken Expertise mit dem für sich sprechenden Titel "Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik".

   Besonders eindringlich warnten die Top-Ökonomen vor einer Rücknahme oder Verwässerung der Agenda 2010. Einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn lehnten sie ebenso ab wie die von Union und SPD grundsätzlich vereinbarte Mietpreisbremse, das Betreuungsgeld oder Steuererhöhungen. Sie verlangten stattdessen unter anderem eine höhere Durchlässigkeit am Arbeitsmarkt, ein Moratorium bei der Förderung erneuerbarer Energien und einen Abbau von Steuervergünstigungen.

   Ihre Mahnungen waren Wasser auf die Mühlen der Wirtschaft. "Das Jahresgutachten des Sachverständigenrates ist eine eindringliche Mahnung an die künftige Bundesregierung, die wirtschaftlichen Erfolge in Deutschland nicht leichtfertig zu verspielen", erklärte Michael Kemmer, der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes deutscher Banken. Völlig zu Recht wiesen die Wirtschaftsweisen darauf hin, dass die starke wirtschaftliche Verfassung Deutschlands Ergebnis der umfassenden Wirtschaftsreformen der vergangenen Dekade sei.

   Und das Handwerk mache sich "angesichts der ersten Erkenntnisse aus den Koalitionsverhandlungen große Sorgen", sagte der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke. "Kann es tatsächlich sein, dass die kommende Große Koalition die bisherigen Erfolgsparameter aushebeln will?", fragte er ebenso rhetorisch wie verzweifelt.

   Doch die fünf Forscher haben schon so manchen Vorschlag gemacht, der dann in der politischen Diskussion versandete. Allen voran ihr Konzept eines Schuldentilgungspaktes für die Eurozone, den Merkel seinerzeit schon bei der Entgegennahme verwarf. An eine Verwirklichung ihrer Gegenvorschläge schienen die Wirtschaftsweisen deshalb auch diesmal nicht so recht zu glauben. So dürften die Ökonomen wohl schon zufrieden sein, gelänge es ihnen wenigstens, den Weg der Großen Koalition ein Stück weit in die gewünschte Richtung zu lenken.

   In den Koalitionsverhandlungen deutet noch nicht viel darauf hin. Immerhin aber durfte sich der Wirtschaftsflügel der Union, der in den Verhandlungen schon einen großen Streit mit der SPD über Mindestlohn und Steuererhöhungen vom Zaun gebrochen hatte, von den Forderungen der Ökonomen gestützt sehen.

   "Die mahnenden Worte der Wirtschaftsweisen sind klar und eindeutig: Auch in der neuen Legislaturperiode müssen wir einen Schwerpunkt auf die Stärkung der Wachstumskräfte und der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland legen", erklärten der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Joachim Pfeiffer, und der Vorsitzende des Parlamentskreis Mittelstand, Christian von Stetten. "Unser Nein zu Steuererhöhungen ist weiterhin klar und deutlich."

   Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com

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   November 13, 2013 08:05 ET (13:05 GMT)

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