23.11.2014 19:47:58
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Südwest Presse: LEITARTIKEL · GRÜNE
Ulm (ots) - Jetzt also liberal. Genauer gesagt linksliberal. Das
neue Selbstbild, das sich die Grünen auf ihrem Parteitag in Hamburg
verordnet haben, soll endgültig Schluss machen mit Bevormundung und
Überheblichkeit, mit moralinsaurer Besserwisserei und verordnetem
Gutmenschentum. Die Grünen - sie wollen nicht mehr der Wegweiser
sein, der auf den richtigen Pfad führt. Sie stellen sich allenfalls
noch beratend an den Rand, selbst wenn der Mensch mit 200 Sachen im
Porsche vorbeibraust. Den Rest wird schon irgendwie der gesunde
Menschenverstand richten. Doch bei aller Notwendigkeit, den
Veggie-Day zu Grabe zu tragen: Das klingt fast schon nach
Selbstaufgabe. Wollen die Grünen die Welt etwa nicht mehr verbessern?
Mit der Wiederentdeckung der Freiheit per Leitantrag versucht die
Partei einmal mehr, die vor 14 Monaten vermasselte Bundestagswahl
abzuhaken. "Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit
seiner Würde und seiner Freiheit", so steht es schließlich im
Grundsatzprogramm von 2002. Und: "Als Vernunftwesen ist der Mensch in
der Lage zu einem verantwortlichen Leben in Selbstbestimmung." So
weit so gut. Doch auf dem riesigen Feld der Freiheit lässt sich von
Menschenrechten bis zur Konsumentenfreiheit viel verorten. Die
verunsicherte grüne Seele schlittert darauf weiter ohne Kompass
herum. Die Grünen haben ein Jahr des Leidens, des Streitens und der
Selbstfindung hinter sich - und trotz aller Versuche, den Delegierten
in Hamburg Harmonie zu verordnen: Dieser Prozess dauert noch an.
Daran ändert auch nichts, dass es den Grünen nun schwarz auf weiß
"herzlich egal ist, ob jemand am Donnerstag Fleisch isst oder nicht".
Denn ein solcher Satz klingt nicht nach Neustart, vielmehr nach einer
Partei, die von sich selbst immer noch peinlich berührt ist. So zieht
sich das durch, auch im Papier "Grüner Aufbruch 2017" mit Blick auf
die nächste Bundestagswahl. Die Grünen haben es sich mit ihren
Fehlern noch nie leicht gemacht, Selbstkritik wurde immer auch
öffentlich ausgelebt - ein im Parteienvergleich durchaus positiver
Wesenszug. Aber so viel Buße gab es selten. Fast könnte man meinen,
die Grünen hätten die schwarze "Verbotspartei"-Kampagne mehr
verinnerlicht als die eigenen Ziele. Es wird allmählich Zeit, aus dem
Albtraum aufzuwachen. Es gibt durchaus Gründe für ein gesundes
Selbstbewusstsein. Die Partei ist in allen 16 Landtagen vertreten,
hat in sieben Ländern Regierungsverantwortung, mit Thüringen sind es
bald acht. Sie dreht dort an vielen Stellschrauben mit - beim
Megathema Bildung etwa oder in der Energiepolitik. Daraus kann auch
die zum Oppositions-Winzling verdonnerte Bundespartei Kraft ziehen.
Und in Hamburg haben die Grünen nun bewiesen, dass sie auch bei
großen inhaltlichen Differenzen wie in der Asylpolitik sachlich
bleiben können. Das trifft auf andere Parteien nicht gerade zu.
Grundsätzlich sind beide Seiten aufeinander angewiesen. Die
Bundesspitze braucht die Länder, um konkrete Politik vorweisen zu
können. Die Länder - auch Winfried Kretschmann - brauchen eine
Bundespartei, die ihnen nicht die nächste Wahl verkorkst, sondern
eine solide Ausgangslage verschafft. Denn oft entscheiden wenige
Prozentpunkte. Aber bei allem Pragmatismus und Mainstream: Ein
bisschen anders dürfen die Grünen auch künftig sein. Sie müssen ja
nicht das Schnitzel verbieten, aber gerne das Antibiotikum im
Schweinestall. Auch wenn das die Agrarindustrie sicher alles andere
als liberal findet.
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Pressekontakt: Südwest Presse Ulrike Sosalla Telefon: 0731/156218
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