21.01.2016 20:47:39

Südwest Presse: LEITARTIKEL · GESELLSCHAFT

Ulm (ots) - Abschied vom Diskurs

Jeder Bürger sollte seine Einkommensteuer auf einem Bierdeckel ausrechnen können - mit dieser Forderung sorgte 2003 der CDU-Politiker Friedrich Merz für Furore. Später räumte er unumwunden ein, dass der Bierdeckel nur ein Symbol für die geforderte Vereinfachung war. Er wusste genau, dass sich das hochkomplexe Steuersystem nicht so einfach entrümpeln lässt wie ein vollgestellter Keller an einem Samstagnachmittag. In einer immer komplexeren Welt wächst die Sehnsucht nach simplen Antworten und Lösungen, damit sich der Nebel etwas lichtet. Eine Zuspitzung wie der Merz'sche Bierdeckel kann dabei durchaus hilfreich sein, um Debatten anzustoßen und überhaupt etwas zu bewegen. Doch inzwischen gibt es einen Trend in Deutschland zur billigen Vereinfachung, zur Banalisierung und Schablonisierung, der beängstigend ist. Und das bei einem stetig steigenden Bildungsstand. Insbesondere in den sozialen Netzwerken, aber nicht nur da, sind jede Menge Pseudo-Experten unterwegs, die meinen, die einzige und allein gültige Wahrheit für sich gepachtet zu haben, egal welches Thema gerade en vogue ist. Während wirkliche Experten mitunter ein ganzes Berufsleben brauchen, um Antworten auf hochkomplexe Fragestellungen zu finden, schwingt sich mancher Laie über Nacht zur Koryphäe auf. Und wehe, man folgt ihm nicht in seinem Schwarz-Weiß-Denken. Gut ist nämlich nur der, der die eigene Meinung teilt. Die anderen ignoriert man bestenfalls, im schlechteren Fall greift man zur Fäkalsprache oder wünscht dem Spielverderber gar den Tod. Die Bereitschaft, sich ohne vorgefertigte Ansicht mit den vielen Facetten eines Problems zu befassen, sinkt. Es schlägt die Stunde der Dilettanten - und der Gesinnungsterroristen. Dabei leben wir in einer Welt voller Widersprüche, in einer Welt aus immer ausdifferenzierteren Systemen und Subsystemen, in denen eine Unzahl von Faktoren aufeinanderwirken. Ein Prozess, der sich durch die Globalisierung und Digitalisierung noch verstärkt hat. Beispiele gibt es zuhauf: Das Finanzsystem, die deutsche Rechtsordnung, die parlamentarische Demokratie mit ihren komplizierten Entscheidungsfindungsprozessen, Konzerne, die sich aus dutzenden Tochterunternehmen zusammensetzen. Oder unsere heterogene Gesellschaft mit unterschiedlichen Lebensformen und Menschen unterschiedlicher Abstammung. Wenn schon jede Patchworkfamilie ein ziemlich komplexes System ist - wie soll man da die Welt durchschauen? Früher haben die Tagesschau und der Pfarrer auf der Kanzel etwas Ordnung in das Durcheinander gebracht. Heute hat jeder Zugriff auf Unmengen an Informationen, die sich kaum mehr sortieren lassen. Der Trend zur Vereinfachung ist da ein Stück weit verständlich, sehnt sich der Mensch doch schon immer nach Ordnung und Orientierung. Wenn aber nur noch aufeinander eingedroschen wird, statt Probleme - im Wissen, dass es so gut wie nie nur eine Wahrheit und eine Lösung gibt - im gesellschaftlichen Diskurs zu erörtern, wird es ungemütlich. Politiker, die sich mit aktionistischen und populistischen Vorschlägen Tag für Tag überbieten, geben leider kein gutes Vorbild. Wie sich Komplexität bewältigen lässt, ist eine der großen Fragen moderner Gesellschaften. Dreht man an einem Schräubchen, hat dies Folgen an vielen Stellen, nicht nur an einer. Ein Denken in Extremen hilft hier nicht weiter, jedoch der Austausch von Argumenten, Differenzieren und ein kleines Wort mit vier Buchstaben: aber. Trend zur billigen Vereinfachung in einer komplexen Welt

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Pressekontakt: Südwest Presse Ulrike Sosalla Telefon: 0731/156218

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