13.11.2020 19:15:38
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OTS: Börsen-Zeitung / Radikalkur am Bosporus / Kommentar zur türkischen Lira ...
Radikalkur am Bosporus / Kommentar zur türkischen Lira von Wolf
Brandes
Frankfurt (ots) - Es ist ein Befreiungsschlag für die Lira, was sich in den
vergangenen zehn Tagen in der Türkei getan hat. Nach dem Abgang von
Zentralbankchef und Finanzminister scheint sich zu bestätigen, dass das Land
eine Kehrtwende in seiner Geldpolitik vollziehen könnte. Anfangs gab es Zweifel,
ob der erneute Rauswurf eines Notenbankchefs nach weniger als zwei Jahren
wirklich etwas Gutes bedeutet. Doch dann legte Erdogan verbal nach und schlug
marktfreundlichere Töne an. Der Präsident sagte, dass er voll hinter der Politik
des neuen Notenbankchefs stehe, und: "Die Türkei wird bittere Pillen
verabreichen, falls dies nötig sein sollte." Das klang nach einer echten Abkehr
von der wenige Tage zuvor geäußerten Beschuldigung, Ausländer und hohe Zinsen
seien für die Probleme des Landes verantwortlich; und weiter: sein Land führe
einen Krieg gegen eine "unheilige Dreieinigkeit" aus Wechselkursen, Inflation
und Zinsen. Doch dann folgte dieser überraschende Kurswechsel.
Der Verfall der türkischen Lira wurde durch die Personalentscheidungen und die
Kehrtwende der Politik jedenfalls gestoppt. Die Währung stieg am Freitag auf den
höchsten Stand seit sieben Wochen und verzeichnete damit in einer Woche einen
Zuwachs von 11%. Marktbeobachter wurden von den Ereignissen in der Türkei
überrumpelt. So hatten die Experten der Commerzbank wochenlang gehofft, dass der
türkische Präsident durch die Entwicklungen der letzten sechs Monate gelernt
habe, sich nicht massiv in die Geldpolitik einzumischen. Doch die erste Reaktion
der Analysten: "Die Entlassung Uysals hat diese Hoffnung zerstört." Warum sollte
man einen Notenbankchef entlassen, den man vor anderthalb Jahren installiert
hatte und der genau das getan hatte, was Erdogan wollte: den "Zinsteufel"
bekämpfen und die Leitzinsen von 24% auf 8,25% herunterschleusen. Und dann hatte
Uysal auch noch im September die Wende eingeleitet und die Leitzinsen wieder auf
10,25% erhöht. Warum sollte nicht er der richtige Mann sein, die Kehrtwende zu
exekutieren, und stattdessen Naci Agbal zum Zentralbankgouverneur ernannt
werden, der als dem Präsidenten treu ergeben gilt? Das schien keinen Sinn zu
machen. Andererseits war Agbal bis 2018 Wirtschaftsminister und gilt als
marktfreundlich.
Wie irritiert die Märkte waren, zeigte die Enttäuschung darüber, dass die
Notenbank die Zinsen nicht schon Ende Oktober weiter angehoben hatte. Zu der
damaligen Entscheidung meinte Sebastian Petric von der Raiffeisenbank
International: "Das Zögern der türkischen Zentralbank, eine deutliche
Zinserhöhung vorzunehmen, ist sicherlich ein sehr schlechtes Zeichen für die
Märkte. Um eine Wiederholung der Währungsprobleme von 2018 zu vermeiden, hätte
die Zentralbank entschlossen handeln müssen. Jetzt ist alles möglich." Die Lage
spitzte sich in der Tat zu, für einen Dollar mussten am 6. November 8,50 Lira
gezahlt werden. Dann handelte Erdogan.
An der Großwetterlage ändern neue Personen so schnell aber nichts.
Leistungsbilanzdefizite, schrumpfende Devisenreserven - für Thomas Meißner von
der LBBW stand das Land kurz vor einem Offenbarungseid. Beispiel
Devisenreserven: Offiziell werden diese mit 42 Mrd. Dollar ausgewiesen, Anfang
des Jahres waren es rund 80 Mrd. Dollar. Fraglich ist aber, wie hoch die freien
Devisenreserven sind.
Nach der Kehrtwende sieht es nun danach aus, dass die Zentralbank auf der
nächsten Sitzung am 19.November ihren Leitzins von 10,25% auf 15% erhöhen
könnte, wie eine Umfrage von Reuters ergab. Die befragten Analysten haben
Erdogans Rede als Zeichen dafür gewertet, dass er eine solche Erhöhung billigen
würde. Damit dürfte der Ausverkauf der Lira wirklich gestoppt sein und bliebe
der IWF vorerst außen vor. Andererseits sind die hohen Zinsen eine Bürde für die
türkische Wirtschaft.
(Börsen-Zeitung, 14.11.2020)
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