26.07.2015 22:02:37

Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Reinhard Zweigler zu Türkei

Regensburg (ots) - Selten wurde ein Land so laut und vernehmlich vom Westen zum Eingreifen in einen Krieg aufgefordert, wie in den vergangenen beiden Jahren die Türkei. Doch der heutige Präsident und vormalige Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hielt still. Die türkische Armee ging nicht gegen die Terrorarmee des Islamischen Staates (IS) vor, die in Syrien und Nordirak Angst und Schrecken verbreitete. Erdogans Kalkül: Je mehr die gottlosen IS-Truppen den syrischen Diktator Baschar al-Assad schwächen, um so besser für Ankara. Doch beim IS funktioniert die schlichte Gleichung nicht, wonach die Feinde meines Feindes meine Freunde sind. Lange bot die Türkei den selbsternannten Gotteskriegern stillschweigend Unterschlupf. Verletzte islamistische Kämpfer wurden in türkischen Krankenhäusern behandelt. Öl aus Syrien und dem Irak wurde über die Türkei ins Ausland verkauft. Mit dem eingenommenen Geld finanzierte der IS seinen Terror. Auslöser für die jetzige Kehrtwende von Erdogan gegenüber dem IS ist vor allem der Selbstmordanschlag im Grenzort Suruc. Damit haben die Islamisten zum ersten Mal brutal in der Türkei zugeschlagen, was vorher ein Tabu war. Erdogan wurde nun gewissermaßen gezwungen, mit Härte gegen den IS vorzugehen. Er lässt die Luftwaffe und Artillerie gegen die Gotteskrieger in Syrien und im Irak feuern. Und er lässt den Militärflughafen von Incirlik für US-Jets öffnen, was er lange verweigerte und was bislang die Luftangriffe der US-Airforce gegen IS schwieriger machte. Die Hilfestellung für den großen Nato-Partner findet natürlich den Beifall von Barack Obama. Endlich hat die Türkei, hat Erdogan seine Pseudo-Neutralität gegenüber den IS-Terroristen aufgegeben. Zugleich aber schießt Erdogan höchst gefährlich über das eigene Ziel hinaus. Dass er auch Lager und Stellungen von Kämpfern der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) bombardieren lässt, ist eine schlimme Eskalation des ohnehin gespannten Verhältnisses zu den Kurden. Erdogan untergräbt brutal die Verständigung mit der PKK. Er schlägt sowohl die seit zwei Jahren bestehende Waffenruhe mit den bewaffneten Kurden sowie das Versöhnungsangebot des seit 1999 in Haft sitzenden PKK-Chefs Abdullah Öcalan aus. Was Erdogan an Hoffnung auf der einen Seite aufbaut (sein Kampf gegen die IS-Mörder), reißt er mit den Attacken gegen die PKK wieder ein. Zudem macht es keinen Sinn, im Kampf gegen den IS seinen wichtigsten Gegner vor Ort zu schwächen. Dass Barack Obama den türkischen Präsidenten wegen der Angriffe auf Kurden-Lager nicht tadelt, hat wohl vor allem damit zu tun, dass man in der US-Administration den Krieg gegen die Kurden als eine Art Kollateralschaden betrachtet. Man nimmt ihn hin, weil Erdogan den USA auf einem anderen Feld entgegenkommt. Aus Sicht der Europäer, zumal aus deutscher Perspektive, darf es eine solche Leistreterei gegenüber Ankara jedoch nicht geben. Der EU-Beitrittskandidat darf nicht mit militärischen Mitteln sein Problem mit der ethnischen Minderheit der Kurden zu lösen versuchen. Dies geschieht seit über drei Jahrzehnten und hat, außer Zehntausenden Toten, keine Erfolge gebracht. Wahrscheinlich jedoch versucht Erdogan, über die Eskalation des militärischen Konflikts mit den Kurden die Lage im Land zuzuspitzen und vorgezogene Neuwahlen zu provozieren. Dass nämlich ausgerechnet die Kurdenpartei HDP die Zehn-Prozent-Hürde übersprang und ins türkische Parlament einziehen konnte, wurmt den islamisch-konservativen Präsidenten wahnsinnig. Er möchte mit seiner AKP wieder allein regieren.

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