10.04.2019 22:47:42
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Mittelbayerische Zeitung: Der Wert der Freiheit / Wer in Deutschland zu Unrecht verurteilt wird, verliert häufig alles. Und wird im Kampf zurück ins Leben alleingelassen. Das muss sich ändern.
Regensburg (ots) - Was sind siebeneinhalb Jahre Leben wert? 70 000
Euro? 170 000 Euro? Oder doch 1,8 Millionen Euro? Wenn Gustl Mollath
jetzt um Entschädigung kämpft für jene 2747 Tage, die er zu Unrecht
per Gerichtsbeschluss in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht
war, geht es um viel Geld. Es geht aber auch um die Frage, wie das
deutsche Rechtssystem mit jenen umgeht, denen Unrecht widerfahren
ist. 70 000 Euro hat der Freistaat Bayern Gustl Mollath bereits
gezahlt. Das entspricht den 25 Euro Entschädigung, die einem in
Deutschland zu Unrecht Inhaftierten pro Hafttag zustehen. Dazu können
Schadensersatzzahlungen kommen, 100 000 Euro bietet der Freistaat
Mollath. Doch der rechnet anders: 288 000 Euro Verdienstausfall will
er unter anderem erstattet haben, dazu 90 000 Euro Anwaltskosten und
Entschädigung für den Entzug seines Hauses. Außerdem fordert er 800
000 Euro Schmerzensgeld, auch wegen der Langzeitfolgen, unter denen
er wegen der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus leidet.
Gustl Mollath ist nicht der erste, der um eine angemessene
Entschädigung für die Folgen eines falschen Urteils vor Gericht
kämpfen muss. Bekannt sind die spektakulären Fälle: Monika de
Montgazon beispielsweise wurde 2005 in Berlin zu einer lebenslangen
Haftstrafe verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie
das Haus, in dem ihr pflegebedürftiger Vater schlief, angezündet
hatte, um den Vater zu töten und die Versicherungssumme zu kassieren.
888 Tage saß sie im Gefängnis, später wurde sie freigesprochen, der
Vater hatte wohl im Bett geraucht und das Feuer selbst verschuldet.
Sie bekam 9779 Euro Haftentschädigung, dazu nach langen juristischen
Auseinandersetzungen 53 000 Euro Schadensersatz und eine monatliche
Zahlung von 1100 Euro. Bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren kämpfte sie
noch um die Kostenerstattung für die Gutachten, ohne die sie ihre
Unschuld nicht hätte beweisen können. Norbert Kuss, der im Saarland
fälschlicherweise wegen angeblichem sexuellen Missbrauch seiner
Pflegetochter zwei Jahre im Gefängnis saß, bekam rund 17 000 Euro
Haftenschädigung. Für weitere 60 000 Euro Schadensersatzzahlung von
der Gutachterin, die der Pflegetochter Glaubwürdigkeit bescheinigt
hatte, musste auch er lange vor Gericht kämpfen. Das Problem: Wer
Schadensersatz über die 25 Euro Haftenschädigung hinaus geltend
machen will, muss nachweisen, dass die Vermögensschäden alleine durch
die Strafverfolgung verursacht wurden. Das ist eine hohe Hürde, die
nur wenige nehmen, zumal vielen Betroffenen die Kraft fehlt: Wer ins
Gefängnis muss, verliert nicht nur die Freiheit. Meist auch die
Arbeit, Freunde, manchmal die Familie. Für die Dauer seiner
Haftstrafe hat er kein nennenswertes Einkommen, zahlt nicht in die
gesetzliche Rentenversicherung ein. Viele verschulden sich durch
Anwalts- und Gutachterkosten. All das gilt auch für unschuldig
Verurteilte. Nach der Entlassung kommen dann zum wirtschaftlichen
Schaden die psychischen Belastung, mit der Hafterfahrung
klarzukommen, und die Stigmatisierung: Der Verrückte, die
Feuerteufelin, der Pädophile. Die Etiketten kleben, auch lange nach
einem Freispruch, die Rückkehr in ein normales Leben und auf den
Arbeitsmarkt ist schwer. Und einsam: Anders als bei entlassenen
Straftätern steht unschuldig Inhaftierten nicht einmal ein
Bewährungshelfer zur Seite. Nur wenige können sich in dieser
Situation auf langwierige juristische Auseinandersetzungen einlassen.
Richter, Staatsanwälte und Gutachter sind Menschen, sie machen
Fehler. Doch ihre Fehler können Menschenleben zerstören. Ein
gerechtes Justizsystem braucht daher Mechanismen, um die Folgen
solcher Fehler abzufedern: Angemessene Haftentschädigungen, einfache
Schadensersatzformeln. Und vor allem Strukturen, die die Betroffenen
nicht alleinlassen, sondern ihnen Hilfe bieten. Und echte
Rehabilitation ermöglichen.
OTS: Mittelbayerische Zeitung newsroom: http://www.presseportal.de/nr/62544 newsroom via RSS: http://www.presseportal.de/rss/pm_62544.rss2
Pressekontakt: Mittelbayerische Zeitung Redaktion Telefon: +49 941 / 207 6023 nachrichten@mittelbayerische.de

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