24.04.2016 17:45:39

Merkel lobt Ankaras Flüchtlingskurs - Türkei pocht auf Visumfreiheit

GAZIANTEP (dpa-AFX) - Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Ratspräsident Donald Tusk haben der Regierung in Ankara eine vorbildliche Flüchtlingspolitik bescheinigt. Beide Politiker sprachen während eines Besuches im Grenzgebiet zu Syrien aber auch Defizite bei der Meinungsfreiheit an. In Gaziantep mahnte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davuoglu am Samstag seinerseits, alle Punkte des Flüchtlingspaktes mit der Europäischen Union müssten umgesetzt werden. Dazu gehöre auch die Visumfreiheit für sein Land. Sonst scheitere das Abkommen, warnte er erneut.

In Deutschland kam Kritik aus der Opposition. Grünen-Chef Cem Özdemir warnte davor, die EU-Milliarden für die Flüchtlingshilfe einfach so an die Türkei zu überweisen. "Die entscheidende Frage ist, wer hier die Hand darauf hat. Denn die Türkei erhält ja nicht gerade großartige Noten bei der Bekämpfung von Korruption", sagte der Parteivorsitzende am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. Merkel sei bei ihrem Besuch durch "Hasenfüßigkeit" aufgefallen.

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen sagte: "Das öffentliche Schweigen der Bundeskanzlerin zum Verfolgungswahn des Präsidenten Erdogan gegenüber kritischen Stimmen im Land ist ein Armutszeugnis und wird ihn nur noch weiter ermutigen mit weiteren Aktionen gegen Oppositionelle."

Der EU-Türkei-Flüchtlingspakt sieht die Rückführung aller Flüchtlinge und Migranten vor, die illegal aus der Türkei auf griechische Inseln übersetzen. Für jeden Syrer, der von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht wird, soll im Gegenzug einer legal und auf direktem Wege in die EU kommen können. Merkel, Tusk, Davutoglu und EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans besuchten gemeinsam ein Camp syrischer Flüchtlinge in Nizip, rund 50 Kilometer von Gaziantep entfernt. Die Provinz Gaziantep gehört zu den Regionen mit den meisten der etwa 2,7 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei.

Merkel sagte: "Was wichtig war, es einfach mal zu erleben, was die Menschen aus ihrem praktischen Leben erzählen." Sie pochte auf breite Schulbildung von Flüchtlingskindern. Die EU müsse ihrer Verantwortung gerecht werden. Die Kanzlerin betonte: "Deutschland tut das gerne."

Davutoglu sagte, fünf Wochen nach der Vereinbarung zeige das Abkommen deutliche Wirkung. Im November hätten noch 6000 Flüchtlinge täglich die Ägäis auf dem Weg in die EU überquert. Diese Zahl sei inzwischen auf 130 gesunken. Merkel habe durch ihre Führung in Europa viel erreicht. In Deutschland sei sie heftig kritisiert worden. Auch an seiner Regierung habe es Kritik gegeben. Davutoglu meinte jedoch, die Bewältigung der Flüchtlingskrise werde einmal "in goldenen Buchstaben" in die Geschichtsbücher eingehen.

Die Aufhebung der Visumpflicht für Türken sei essenziell, betonte Davutoglu. Das türkische Parlament arbeitete "Tag und Nacht" daran, noch in diesem Monat die 72 gestellten Bedingungen dafür zu erfüllen. Merkel sagte, die EU-Kommission werde am 4. Mai einen Bericht dazu vorlegen. "Ich habe die Absicht, dass wir uns an die Verabredungen halten, vorausgesetzt natürlich, dass die Türkei die Ergebnisse auch liefert." Und: "Es war eh verabredet, dass im Oktober die Visafreiheit eingeführt wird."

Merkel wies Vorwürfe zurück, wonach Deutschland durch die Flüchtlingskrise in eine "bestimmte Abhängigkeit der Türkei" geraten sei und Freiheitsrechte deshalb kein Thema mehr für Berlin seien. Werte wie Meinungs- und Pressefreiheit seien für sie weiterhin unverzichtbar. Gebe es kritische Fälle, "dann wird das angesprochen, dann wird das auf den Tisch gelegt". Am Samstag sei etwa über den ARD-Korrespondenten Volker Schwenck gesprochen worden. Die Türkei hatte ihm die Einreise verweigert. Davutoglu sagte, Schwenck habe vor seiner Einreise "keinen Antrag auf journalistische Tätigkeit" gestellt. Stelle er einen solchen Antrag, würde das positiv geprüft.

Bundespräsident Joachim Gauck verteidigte das EU-Türkei-Abkommen gegen Kritik von Menschenrechtlern. "Wenn wir nur mit den Staaten Umgang pflegen würden, die völlig auf unserem Level wären, würde ein Teil der Partner, die wir auf der Welt haben als Handelspartner, als Gesprächspartner, als Vertragspartner, schlichtweg ausfallen", sagte er im Interview der Woche des Deutschlandfunks.

Tusk betonte: "Die Türkei ist heute das beste Beispiel in der Welt dafür, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten. Keiner hat das Recht, die Türkei zu belehren." Zum Umgang mit der Pressefreiheit sagte er, die Grenze zwischen Beleidigung, Kritik und Diffamierung sei sehr fein. Fingen Politiker an, eine Entscheidung für andere zu fällen, sei das das Ende der Pressefreiheit.

Merkel hatte kurz vor ihrem Türkei-Besuch einen Fehler in der Affäre um ein vulgäres Gedicht des Satirikers Jan Böhmermann über Staatschef Recep Tayyip Erdogan eingeräumt. Erdogan verklagt den Mann, weil er sich beleidigt fühlt. Merkel sagte, sie ärgere sich, dass sie Böhmermanns Text früh als "bewusst verletzend" bewertet habe. Dadurch sei der Eindruck entstanden, sie verteidige die Meinungs- und Pressefreiheit nicht mehr so wie früher. Das sei aber nicht der Fall.

Derweil sorgt ein neuer Streit zwischen der EU und der Türkei für Misstöne. Die Türkei hat auf EU-Ebene gegen das Konzertprojekt "Aghet" der Dresdner Sinfoniker interveniert. "Das von der EU geförderte Konzertprojekt thematisiert den Genozid an den Armeniern", teilten die Sinfoniker mit. Der türkische EU-Botschafter verlange, dass die EU die finanzielle Förderung für die internationale Produktion einstellt, sagte Intendant Markus Rindt in Dresden. Er sprach von einem "Angriff auf die Meinungsfreiheit"./du/cy/DP/he

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