22.04.2022 16:36:42
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Lagarde: EU muss Balance zwischen Autonomie und Protektionismus finden
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, sieht angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine eine neue Weltordnung heraufziehen, in der Handelsströme stärker an gemeinsame Wertvorstellungen der Partner gebunden sind und eine Regionalisierung an die Stelle der bisher herrschenden Globalisierung tritt. Lagarde zufolge steht Europa in dieser Welt einerseits wegen seiner Abhängigkeit von Rohstoffimporten vor besonderen Schwierigkeiten. Andererseits sieht die EZB-Präsidentin Chancen für eine stärkere europäische Integration.
"Die größte Herausforderung für Europa besteht heute darin, eine 'offene strategische Autonomie' zu erreichen, das heißt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Absicherung von Risiken in Bereichen, in denen wir übermäßig anfällig sind, und der Vermeidung von Protektionismus zu finden", sagte Lagarde laut veröffentlichtem Text in einer Veranstaltung des Peterson Institute.
Lagarde sieht infolge von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg drei wichtige Trends:
1. Diversifizierung senkt Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten
Bereits Ende 2021 hatte Lagarde zufolge fast die Hälfte der europäischen Unternehmen ihre Zuliefererbasis diversifiziert, während nur 5 Prozent der Unternehmen die Produktion ins Heimatland zurückgeholt hätten ("Reshoring"). Gleichzeitig verließen sich die Unternehmen nicht mehr auf "Just-in-Time"-Lieferketten, sondern auf einen "Just-in-Case"-Ansatz. "Ende letzten Jahres verließen sich weniger als 15 Prozent der Unternehmen auf "Just-in-Time"-Lieferungen", sagte Lagarde.
2. "Friend-shoring" - Produktion in befreundeten Ländern
Unternehmen werden Lieferbeziehungen laut Lagarde verstärkt mit Produzenten in befreundeten Ländern unterhalten. "Internationale Unternehmen werden nach wie vor starke Anreize haben, ihre Produktion dort zu organisieren, wo die Kosten am niedrigsten sind, aber geopolitische Zwänge könnten den Bereich, in dem sie dies tun können, einschränken", sagte sie. Sie rechnet damit, dass dieser Trend künftig auch Halbleiter- und Pharmaproduktion erreichen wird. So wolle Europa seinen Anteil an der weltweiten Halbleiterproduktion bis 2030 auf 20 Prozent verdoppeln.
"Aber auch Branchen, die nicht als strategisch wichtig gelten, werden sich wahrscheinlich auf das Auseinanderbrechen der globalen Handelsordnung einstellen und ihre Produktion anpassen", prognostizierte die EZB-Präsidentin. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage habe ergeben, dass 46 Prozent der deutschen Unternehmen erhebliche Vorleistungen aus China bezögen. "Die Hälfte von ihnen will ihre Abhängigkeit verringern", sagte Lagarde. In den USA hätten fast 40 Prozent der Mitglieder des US-China Business Council ihre Beschaffungsquellen verlagert.
Schwer umzusetzen ist diese Methode Lagarde zufolge allerdings bei Energie und kritischen Rohstoffen, die ungleichmäßig über die Welt verteilt seien und nicht durch einheimische Alternativen ersetzt werden könnten. "Die Regionen werden ihre kritischen Inputs zunehmend von einem kleineren Pool potenzieller Lieferanten beziehen müssen, die als zuverlässig gelten und mit ihren gemeinsamen strategischen Interessen übereinstimmen", prognostizierte die EZB-Präsidentin.
Sie müssten dies vor dem Hintergrund eines grünen Wandels tun, durch den bestimmte Rohstoffe wie Kupfer, Kobalt und Nickel immer wichtiger würden. "Ein neuer geopolitischer Wettlauf um die Sicherung des Zugangs zu Ressourcen ist daher wahrscheinlich", sagte Lagarde.
3. Regionalisierung mildert die Wirkungen der De-Globalisierung
Die Fragmentierung auf globaler Ebene kann Lagarde zufolge eine stärkere Integration auf regionaler Ebene fördern, die helfen kann, die Kosten einer sich verändernden Welt zu bewältigen. Regionalisierung erleichtere die gemeinsame Finanzierung strategischer Prioritäten und Investitionen und trage dazu bei, Größenvorteile zu erzielen. "Und sie kann auch dazu beitragen, den Kostendruck auszugleichen, der von höheren Energiepreisen und den damit verbundenen höheren Transportkosten ausgeht", sagte Lagarde.
Europa ist auf eine solche Regionalisierung Lagarde zufolge gut vorbereitet.
A. Europa verfüge über den größten Binnenmarkt der Welt, der den Mitgliedstaaten eine solide Grundlage für den Aufbau neuer Lieferketten biete, wenn strategische Erfordernisse dies verlangten. 2019 seien über 70 Prozent der Beteiligung des Euroraums an globalen Wertschöpfungsketten regional gewesen.
B. "Wir haben seit langem eine Form der 'gesteuerten Globalisierung' innerhalb unseres Binnenmarktes verfolgt", sagte Lagarde. Schranken für Handel und Austausch seien deutlich verringert, zugleich aber gemeinsame Institutionen zur Überwachung der Märkte und zur Streitschlichtung aufgebaut worden. "Dadurch wird die Offenheit innerhalb Europas in einer Zeit, in der sie auf globaler Ebene bedroht sein könnte, wahrscheinlich nachhaltiger."
C. Lagarde zufolge hat die EU bereits beträchtliche Fortschritte bei der Zusammenlegung von Ressourcen gemacht, was für die Bewältigung der laufenden Übergänge wichtig sein werde. "Der Investitionsbedarf, der auf uns zukommt, ist enorm, insbesondere wenn wir uns schnell von Russland abkoppeln wollen", sagte sie. Als Beispiel für ein "innovatives Instrument" nannte sie den Fonds "Next Generation EU" in Höhe von 750 Milliarden Euro.
"Ein Ergebnis dieses sich wandelnden globalen Umfelds könnte darin bestehen, die Vorteile der europäischen Integration greifbarer zu machen und damit die Legitimität der EU insgesamt zu erhöhen", sagte sie. Lagarde verwies darauf, dass drei Viertel der Europäer für eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU seien.
Kontakt zum Autor: hans.bentzien@dowjones.com
DJG/hab/mgo
(END) Dow Jones Newswires
April 22, 2022 10:37 ET (14:37 GMT)
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