20.11.2015 20:01:45
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ANALYSE/Streit über Flüchtlinge: Seehofer demütigt Merkel
Von Stefan Lange
BERLIN/MÜNCHEN (Dow Jones)--Es ist so üblich, dass die Parteivorsitzende der CDU auf dem jährlichen CSU-Parteitag eine Rede hält. Eigentlich war es also nur der ganz normale Höflichkeitsbesuch der großen Schwester beim kleinen Unions-Familienanhang, den CDU-Chefin Angela Merkel am Freitagabend in München zu bewältigen hatte. Doch was als Austausch von Nettigkeiten gedacht war, endete in einer wohl beispiellosen Provokation durch den Gastgeber Horst Seehofer.
Zwar war schon vorher klar, dass sich die Atmosphäre des Besuchs durch das Thema Flüchtlinge etwas eintrüben könnte. Denn die CSU hatte in einem zuvor veröffentlichten Leitantrag eine Obergrenze für den Flüchtlingszuzug gefordert. "Wir können nicht alle aufnehmen, die zu uns wollen", heißt es dort. Ein Passus, mit dem Merkel noch leben könnte, denn "alle", das schließt eben auch diejenigen ein, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen. Und die will, das machte sie vor den CSU-Delegierten noch einmal deutlich, auch Merkel wieder zurückschicken.
Doch die CSU will darüber hinaus konkrete Obergrenzen. Deutschland solle fürs nächste Jahr ein Kontingent für Bürgerkriegsflüchtlinge "entsprechend seiner leistbaren Kapazitäten" festlegen, heißt es in dem einstimmig verabschiedeten Leitantrag.
Wie ein Schulmädchen
Ein Ansinnen, das Merkel in ihre Parteitagsrede entschieden zurückwies. Man werde die Zahl der Flüchtlinge reduzieren, indem man Fluchtursachen bekämpfe, die Lasten in Europa teile und andere Maßnahmen ergreife, machte die Kanzlerin deutlich. Nur mit diesem Ansatz schaffe man es, "im Unterschied zu einer einseitig festgelegten Obergrenze, einer nationalen Obergrenze, im Interesse aller zu handeln".
Der ohnehin eher spärliche Beifall der Delegierten gefror zu einem vereinzelten Klatschen, und nachdem Merkel ihre Rede beendet hatte, kam es zum Eklat. Seehofer betrat die Bühne, positionierte sich am Rednerpult und ließ die deutsche Regierungschefin wie ein kleines Schulmädchen neben sich stehen.
Mit unbewegtem Gesicht meierte Seehofer die Kanzlerin ab. "Damit die Standpunkte auch klar sind, auf deren Grundlage wir in den nächsten Wochen und Monaten weiter arbeiten", drohte der bayerische Ministerpräsident: Die CSU sei der festen Überzeugung, dass die "große historische Aufgabe der Integration von Flüchtlingen in unserem Land, dass auch die Zustimmung der Bevölkerung nicht auf Dauer zu haben ist, wenn wir nicht zu einer Obergrenze für die Zuwanderung bei den Flüchtlingen kommen".
Seehofer legte gar noch nach. "Du weißt, dass wir hartnäckig für dieses Ziel arbeiten. Und deshalb kann ich Dir nur sagen: Wir sehen uns zu diesem Thema wieder", erklärte der Bayer, während Merkel sichtlich um Contenance bemüht war. "Wir werden weiter darüber reden, wir werden es weiter einfordern."
Das Tischtuch ist zerrissen
Es kam dann noch ärger. Die Union habe sich immer darum bemüht, die internationale Verantwortung einerseits und die nationalen Interessen andererseits zu verbinden, belehrte Seehofer die weiterhin verloren wirkende Kanzlerin neben ihm. Eine Begrenzung sei im nationalen Interesse, sagte Seehofer - und warf Merkel damit indirekt vor, genau diese nationalen Interessen zu verraten.
"Wir haben also diese große Bitte und Forderung, dass wir weiter reden über diese Obergrenzen, neben allen anderen Fragen der Humanität und Integration, und dass wir bei den Überlegungen immer die nationalen Interessen mit der internationalen Verantwortung verbinden", sagte Seehofer noch, um Merkel nahezu übergangslos "eine gute Rückfahrt" zu wünschen.
Kanzlerin Merkel begeht am Sonntag ihr zehnjähriges Amtsjubiläum, Seehofers Anfeindungen werden ihr jegliche Feierlaune verdorben haben. Doch abgesehen von solchen Animositäten wiegt viel schwerer, dass das Tischtuch zwischen ihr und Seehofer, das ohnehin schon zerfasert war, nach diesem denkwürdigen Parteitag irreparabel zerrissen sein dürfte.
Kontakt zum Autor: stefan.lange@wsj.com
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November 20, 2015 13:30 ET (18:30 GMT)
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