Dow Jones
08.11.2014 18:15:32
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Wie die DDR-Staatsagentur ADN die Maueröffnung -2-
Von Stefan Lange
Als am Abend des 9. November deutsche Geschichte geschrieben wurde, überschlugen sich westliche Medien mit Eil-Meldungen und improvisierten Live-Sendungen über die unerwartete Öffnung der deutsch-deutschen Grenze. Während sich die Nachricht über die historische und atemberaubende Entwicklung weltweit verbreitete, herrschte ausgerechnet bei der DDR-Nachrichtenagentur ADN stundenlang Sendepause.
André Spangenberg hatte in der historischen Nacht Dienst beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst. Im Gespräch mit dem Wall Street Journal Deutschland erzählt der heute 53-jährige Journalist erstmals von den merkwürdigen Umständen damals.
Spangenberg, seit nunmehr 25 Jahren im Nachrichtengeschäft, war damals noch ziemlich neu in der ADN-Redaktion in der Berliner Mollstraße 1. Nachdem er zunächst ein Jahr lang als Assistent beim Chef vom Dienst des ADN (CvA) gearbeitet hatte, wurde er im Oktober 1989 zum Redakteur befördert. Nach gut einem Monat durfte er seine erste Nachtschichtwoche machen.
Nachtschicht beim ADN bedeutete, dass zwei Redakteure ihren Dienst versahen. Mehr brauchte es nicht, denn nach damaliger DDR-Lesart "durfte ja nichts Außergewöhnliches passieren", erzählt Spangenberg.
Für das Inland war klar, dass zwischen abends um 22 Uhr und morgens um 6 Uhr keine Meldungen gemacht wurden. Denn alles, was über den ADN-Ticker ging, musste vorher von höchsten staatlichen Stellen abgesegnet werden. Allenfalls Meldungen aus dem Ausland, beispielsweise über Naturkatastrophen, waren denkbar. "Zwar lief schon damals nichts mehr normal, aber es gab festgefahrene Strukturen, die weiter bestanden", sagt Spangenberg rückblickend. "Da war völlig klar: Es wird aus dem Inland nicht berichtet."
Neue Regelung lag um 14 Uhr vor
So war auch die Bekanntgabe der neuen Reiseregelung minutiös vorbereitet. Die Staatsagentur ADN bekam die Neuregelung am 9. November etwa um 14 Uhr übermittelt, erinnert sich Spangenberg. "Die haben wir, wie es damals üblich war, abgetippt, gegengelesen und dann mit Sperrfrist Freitag, 5 Uhr morgens versehen."
Das Kalkül der Noch-Regierenden: Die Meldung wäre zunächst am Freitag um 5 Uhr im Radio verlesen worden. "Wir DDR-Bürger waren aber so konditioniert, dass wir nur geglaubt haben, was wir schwarz auf weiß hatten", sagt Spangenberg. Schwarz auf weiß, das waren damals die Zeitungen der DDR, unter anderem das SED-Zentralorgan Neues Deutschland.
In den Zeitungen - eine Medienverbreitung per Internet gab es noch nicht - hätte die Meldung jedoch erst am Samstag gestanden. Der DDR-Regierung wäre unter normalen Umständen genügend Zeit geblieben, die Behörden bis Montag zu instruieren und neue Verordnungen für den Umgang mit der Reisereglung zu verfassen. "Das war die Idee", erzählt Spangenberg. Doch dann erlebten wir am 9. November die Pressekonferenz mit Schabowski."
Kurz vor 19 Uhr ließ Politbüro-Sprecher Günter Schabowski die Bombe platzen, nachdem er auf die Frage, ab wann die neue Reiseregelung gelte, überrumpelt stotterte: "Das tritt nach meiner Kenntnis & ist das sofort &" Westliche Nachrichtenagenturen verbreiteten die Nachricht im Eil-Tempo. Um 19.02 Uhr sei die erste Meldung einer West-Agentur gelaufen, erinnert sich Spangenberg. Es war die britische Agentur Reuters, die damals zuerst die Sensation verbreitete: Die DDR öffnet nach 28 Jahren die Mauer.
"Was machen wir jetzt, als ADN?"
Zu diesem Zeitpunkt, um kurz nach 19 Uhr, lief im West-Fernsehen bereits die ZDF-Nachrichtensendung Heute, deren Redakteure nach Spangenbergs Einschätzung den Agenturen wohl nicht ganz trauten mochten. Erst "zum Schluss der Heute-Sendung hieß es: Die DDR macht die Grenzen auf. Damit war die Sache erst einmal in der Welt", erinnert sich Spangenberg.
Die Redakteure in der ADN-Zentrale kamen damit allerdings erheblich unter Druck, denn um 19.30 Uhr stand die Sendung Aktuelle Kamera des DDR-Staatsfernsehens an. Und deren Redakteure durften nichts senden, was nicht von ADN kam. "Also war die große Frage: Was machen wir jetzt, als ADN?", sagt Spangenberg.
Die ADN-Leute entschieden, dass die Sperrfrist der seit 14 Uhr vorliegenden Meldung über die neue Reiseregelung nun nicht mehr gelte. Die Meldung wurde noch rechtzeitig vor Sendebeginn der Aktuellen Kamera auf den Ticker gegeben und konnte dort verlesen werden. Darin war allerdings in übelsten Bürokratie-Deutsch von einer Ausreise über jeden Grenzübergang, aber nicht etwa von einer generellen Grenzöffnung die Rede. Um 20 Uhr berichtete dann die ARD-Tagesschau, der Sender Freies Berlin (SFB) habe schon ein Kamerateam vor Ort gehabt, es habe jedoch noch keine Live-Bilder gegeben, erinnert sich Spangenberg.
Seine eigentliche Schicht begann dann um 22 Uhr. Er und der Redakteur vom Dienst hätten in der ADN-Redaktion gesessen, wo das West-Fernsehen über die Bildschirme flimmerte. Es liefen die Tagesthemen der ARD, und auch die hätten noch keine Bilder von der Bornholmer Straße gehabt, sagt der damalige ADN-Journalist, der nach der deutschen Einheit bei den Nachrichtenagenturen ddp und dapd arbeitete.
Um 22.45 Uhr ging die Tagesschicht nach Hause. "Wir saßen nur noch zu zweit da, und wir haben natürlich SFB laufen lassen", erzählt Spangenberg. Erst kurz nach 23 Uhr habe der Westberliner Fernsehsender die ersten Live-Bilder von der Bornholmer Brücke gebracht, über die zu diesem Zeitpunkt schon DDR-Bürger ungehindert in den Westen strömten. "Damit war dem letzten klar: Die Mauer ist wirklich geöffnet."
Der ADN berichtete trotzdem nicht.
"Bist Du blöde?"
"Mein Kollege und ich sahen die Trabbis, die jubelnden Menschen. Ich fragte meinen Kollegen, ob wir jetzt nicht mal eine Meldung machen wollen, als Agentur? Da guckte der mich völlig entgeistert an und sagte: Bis Du blöde? Ich mache doch keine Meldung nach dem Westfernsehen."
Immerhin kam es zu einem Telefonat mit einem Vorgesetzen. "Der guckte kurz auf seinen Fernseher und sagte, er sei sofort da." Da alle führenden ADN-Mitarbeiter verpflichtet gewesen seien, ihre Wohnung innerhalb eines Fünf-Minuten-Radius' um den Sitz der Agentur zu nehmen, sei der Kollege tatsächlich schnell dagewesen.
"Der guckte genauso wie wir und überlegte, was wir tun können. Wir brauchten ja eine Quelle zur Bestätigung, und diese Quelle konnte nicht das West-Fernsehen sein." Der diensthabende CvA tat das Naheliegende, blätterte im geheimen Telefonverzeichnis, griff zum roten Telefon und rief die "GÜST" an, die Grenzübergangsstelle in der Bornholmer Straße.
Die Frage an die Grenzer war: "Können Sie uns bestätigen, dass die Grenze offen ist?", erinnert sich Spangenberg. Die Antwort sei ein knappes "Nein" gewesen. "Da hatten wir nun diese Antwort, und wir hatten die Fernsehbilder". Auf die Frage, warum nicht, habe der Grenzer geantwortet, er dürfe dazu keine Auskunft geben, sondern nur das Ministerium für Staatssicherheit. "Also wieder die rote Kladde gewälzt, die vierstellige Nummer des Diensthabenden im MfS gewählt und wieder die gleiche Frage gestellt: Können Sie bestätigen, dass die Grenze offen ist?"
Auch hier sei die Antwort ein "Nein" gewesen, der Diensthabende habe erklärt, nur der zuständige Minister selbst dürfe diese Frage beantworten. Der sei aber in einer ZK-Sitzung gewesen und war damit nicht erreichbar. Spanngenberg schüttelt noch heute den Kopf über die absurde Situation: "Damit waren wir, was die Recherchemöglichkeiten anging, am Ende."
"Das Schärfste: Mein Vorgesetzter ging nach Hause"
Sein Vorgesetzter habe ihm dann ein paar Zeilen diktiert, berichtet Spangenberg. Den genauen Wortlaut hat er nicht mehr im Kopf, aber die Meldung lautete ungefähr: Nach Verkünden der neuen Reiseregelung nutzten Tausende Berliner und Besucher der Hauptstadt der DDR die Möglichkeit zu einem Kurzbesuch im Westteil der Stadt. Die Grenzbeamten regelten den Übergang unbürokratisch. Viele hätten den Wunsch nach einer Rückkehr in die DDR geäußert.
Diese drei dürren Zeilen seien dann noch vor Mitternacht als Rundfunkmeldung (RF) auf den Ticker gegangen, sagt Spangenberg: "Und nun kommt das Schärfste: Mein Vorgesetzter ging nach Hause." Die Redakteure blieben ab Mitternacht wieder allein im Großraum der ADN-Zentrale.
Während in aller Welt über das Ereignis berichtet wurde, bei dem der Eiserne Vorhang endgültig fiel, fand die Maueröffnung bei ADN zunächst nicht statt. Bis weit nach vier Uhr morgens nicht.
Auf die Frage, warum keiner der ADN-Redakteure selbst zur Grenze gegangen sei und berichtet habe, hat Spangenberg eine einfache Antwort: "Es war doch alles vorlagepflichtig. Jede Meldung, die rausging, musste freigegeben werden."
Bewegung erst um vier Uhr
Um kurz nach vier Uhr morgens habe ADN-Generaldirektor Günter Pötschke, seines Zeichens auch ZK-Mitglied, angerufen und nach dem Stand der Berichterstattung gefragt. Zu diesem Zeitpunkt seien schon die ersten ADN-Kollegen mit Aldi-Tüten iin der Hand in der Redaktion aufgetaucht und hätten völlig euphorisch von der Maueröffnung erzählt. Pötschke habe zu dem Zeitpunkt angeordnet, sofort alle Ton- und Bildreporter loszuschicken. "Ab fünf, halb sechs hat dann auch ADN angefangen zu sagen: Oh ja, es gab eine Revolution und wir berichten jetzt auch", sagt Spangenberg.
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-2 of 2- 08 Nov 2014 15:30:00 UTC DJ Wie die DDR-Staatsagentur ADN die Maueröffnung -2-
25 Jahre nach den irrwitzigen Ereignissen jener Nacht ist sich Spangenberg sicher: Wenn es das West-Fernsehen nicht gegeben hätte, wenn die Menschen die Bilder des SFB nicht gesehen hätten und in Massen zur Grenze geströmt wären, dann hätte es die Entwicklung in dieser Form nicht gegeben. "Hier hat Fernsehen, davon bin ich überzeugt, Geschichte geschrieben. West-Fernsehen meine ich. Wir bei ADN haben die Geschichte komplett verpennt."
Kontakt zum Autor: stefan.lange@wsj.com
DJG/WSJ/kla
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