Die 42 von Dow Jones Newswires befragten Volkswirte rechnen mit unveränderten Leitzinsen. Allerdings haben sich die finanziellen Rahmenbedingungen der Euroraum-Wirtschaft seit der vorigen Ratssitzung im Juli so spürbar eingetrübt, dass Beobachter zumindest die eine oder andere verbale Reaktion von EZB-Präsident Mario Draghi erwarten. Die Zinsentscheidung der EZB wird am Donnerstag um 13.45 Uhr veröffentlicht, Draghis Pressekonferenz beginnt um 14.30 Uhr.

Die Aussichten für eine weitere Normalisierung der Inflation im Euroraum (0,2 Prozent im August) haben sich während der Ferienwochen eingetrübt. Seit der Sitzung des EZB-Rats im Juli hat der Euro aufgewertet, der Ölpreis ist deutlich gesunken und die Inflationserwartungen haben ebenfalls den Rückwärtsgang eingelegt. Zugleich sind die Realzinsen gestiegen. Mit Ausnahme des Ölpreises, der positiv für Konsum und Produktion sein kann, handelt es sich durchgängig um Faktoren, die wachstumsunfreundlich sind.

Die EZB versichert seit geraumer Zeit, dass sie einer ungewollten Straffung der Refinanzierungsbedingungen nicht tatenlos zusehen würde. Als mögliche Gegenmaßnahmen sehen Ökonomen eine quantitative oder qualitative Ausweitung des Anleihekaufprogramms bzw. seine zeitliche Verlängerung, eine Verlängerung der Vollzuteilung in Refinanzierungsgeschäften für Banken und eine Senkung der Leitzinsen.

Zwar hat EZB-Präsident Mario Draghi wiederholt versichert, dass bei den Zinsen nun der Boden erreicht sei, aber angesichts von Finanzmarktturbulenzen und scheinbar entankerter Inflationserwartungen wächst die Zahl derer, die das nicht mehr glauben. So erwarten mehrere Bankvolkswirte, dass der EZB-Rat am Donnerstag eine Senkung des Einlagensatzes (derzeit bei minus 0,20 Prozent) diskutieren wird.

Einige gehen sogar davon aus, dass Draghi das in seiner Presskonferenz mitteilen wird. Schließlich hat der EZB-Präsident schon in den vergangenen Monaten immer wieder gesagt, die EZB werde falls erforderlich "mehr tun", als bis September 2016 monatlich Anleihen für 60 Milliarden Euro anzukaufen. Besteht diese Erfordernis jetzt schon?

Das könnte man so sehen. Die so genannten 5x5-Inflationserwartungen - die Erwartungen in fünf Jahren für die darauf folgenden fünf Jahre - sind zuletzt wieder auf 1,6 Prozent gesunken. Die EZB strebt aber mittelfristig knapp 2 Prozent Inflation an. Der Euro hat handelsgewichtet deutlich aufgewertet, was Einfuhren günstiger macht und die "importierte Inflation" reduziert. Zudem hat sich Öl in US-Dollar gerechnet um 30 Prozent verbilligt.

Über diese Entwicklung kann die EZB schon deshalb nicht einfach hinweggehen, weil Präsident Draghi am Donnerstag aktuelle Stabsprojektionen für Wachstum und Inflation präsentieren muss. Euro-Kurs und Ölpreis wird der volkswirtschaftliche Stab der EZB bei der Berechnung seiner Inflationsprognosen nicht völlig ignoriert haben.

Im Juni sagte er für 2015, 2016 und 2017 Inflationsraten von 0,3, 1,5 und 1,8 Prozent voraus. Vor allem die Prognosen für die beiden nächsten Jahre hielten die meisten Beobachter schon damals für sehr optimistisch.

Auch die Wachstumsprognosen erscheinen ambitioniert - besonders die Voraussage von 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum in diesem Jahr. Soll sie erreicht werden, müsste das Bruttoinlandsprodukt im dritten und vierten Quartal um 0,6 und 0,7 Prozent steigen. Eine derartige Konjunkturbelebung zeichnet sich aber trotz leicht positiver Überraschungen bei den Frühindikatoren nicht ab.

Andererseits erwarten sie nicht, dass sich die EZB mit ihren eigenen Stabsprojektionen unter Handlungsdruck setzen will. Als Entschuldigungsgründe könnten ihr die guten Unternehmensumfragen, die unerwartet stabile Inflation im August und das sich erholende Kreditwachstum dienen.

Unter dem Strich bleibt festzuhalten: EZB-Chef Draghi wird auf jeden Fall bekräftigen, dass die EZB eine Aufstockung ihres Anleihekaufprogramms für möglich hält. Konkretere Aussagen hierzu oder gar Andeutungen über Leitzinsdiskussionen im EZB-Rat sind nicht ausgeschlossen.

Von Hans Bentzien FRANKFURT (Dow Jones)

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