13.11.2014 16:46:31
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ifo-Präsident Sinn kontert Lews Kritik an Europa
Von Andreas Kißler
BERLIN--Ungewohnt deutlich hat US-Finanzminister Jacob Lew Europa dazu aufgefordert, mehr für die Nachfrage zu tun. Europa droht nach seiner Einschätzung das Risiko eines "verlorenen Jahrzehnts" beim Wirtschaftswachstum, wenn nicht aggressivere Anstrengungen unternommen werden, die Nachfrage anzukurbeln.
Die Bundesregierung hat solche Kritik stets zurückgewiesen. Nun bekommt sie Unterstützung aus der Volkswirtschaft. Mit ifo-Präsident Hans-Werner Sinn kontert eine gewichtige Ökonomenstimme die Anwürfe des US-Finanzministers. Sinn wirft ihm vor, eine "falsche Diagnose" vorzunehmen und deshalb zu einer falschen Therapie zu greifen.
"Herr Lew warnt zu Recht vor einem verlorenen Jahrzehnt Europas, aber die Maßnahmen, die er dagegen empfiehlt, sind genau die, die Japan zwei verlorene Jahrzehnte gebracht haben", sagte der Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung dem Wall Street Journal Deutschland. "Weil der US-Finanzminister von einer falschen Diagnose der europäischen Probleme ausgeht, kommt er auch zu einer falschen Therapie", kritisierte Sinn.
Zur Begründung führte der Wirtschaftsprofessor den Fall Japans an, das seine Schulden nach dem Platzen der dortigen Blase im Jahr 1990 von 69 Prozent auf mittlerweile 245 Prozent der Wirtschaftsleistung angehoben habe. "Mehr Schulden waren kaum möglich, und dennoch war Japan zwei Jahrzehnte in einer Deflation und Stagnation", gab Sinn zu bedenken.
Der ifo-Präsident warnte, neue Schulden könnten nur dann Wachstum im Sinne einer Verbesserung des Auslastungsgrades der Produktionskapazität anstoßen, wenn die Länder unter einem Nachfragemangel im Sinne keynesianischer Wirtschaftstheorie litten. "Das ist jedoch zumindest in den südeuropäischen Ländern, die derzeit am Boden liegen und den ganzen Kontinent herunterziehen, nicht der Fall", konstatierte Sinn.
Diese Länder hätten ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren und seien heute schlichtweg zu teuer. Dass ihnen jahrelang die Schuldenaufnahme durch kollektive Schutzsysteme erleichtert worden sei, habe die notwendige Anpassung der Löhne und relativen Preise verzögert und das Wachstum blockiert. Die keynesianische Wirtschaftslehre setzt grundsätzlich auf eine Wirtschaftsbelebung durch verstärkte Staatsausgaben und expansive Geldpolitik.
Lew hat Europa und Japan vor dem G20-Gipfel in Australien eine zu lasche und unentschlossene Wirtschaftspolitik vorgeworfen. Europa droht nach seiner Einschätzung das Risiko eines "verlorenen Jahrzehnts" beim Wirtschaftswachstum, wenn nicht aggressivere Anstrengungen unternommen werden, die Nachfrage anzukurbeln. Eine mögliche neue Rezession in der Eurozone könnte die fragile weltwirtschaftliche Erholung zum Stillstand bringen, warnte er. Lew nannte besonders Deutschland und die Niederlande als Länder, die hohe Überschüsse und finanzielle Spielräume hätten.
Auch die Große Koalition reagierte sofort auf diese Kritik. "Deutschland hat im Gegensatz zu einigen anderen Ländern durch seine Reformen viele Hausaufgaben gemacht", erklärte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) habe darüber hinaus angekündigt, haushälterische Spielräume für ein Investitionsprogramm zu nutzen, betonte Brinkhaus.
Deutschland sieht sich aufgrund der Politik der Budgetkonsolidierung jüngst zunehmender Kritik aus dem Ausland gegenüber. Schäuble hat solche Anwürfe der USA und anderer internationaler Partner aber stets mit dem Argument gekontert, Haushaltsdisziplin und Wachstumsförderung bedingten einander. Zwar hat er vergangene Woche zusätzliche Investitionen von 10 Milliarden Euro von 2016 bis 2018 angekündigt. Für diese sollen nach seinen Worten aber keine neuen Schulden aufgenommen werden. Schäuble plant für 2015 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt. Der Bundestag will die konkreten Planungen dafür voraussichtlich am Donnerstag abschließen.
Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com
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November 13, 2014 10:16 ET (15:16 GMT)
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