17.06.2016 07:00:00

Großbritannien ist wirtschaftlich eng mit der EU verflochten

Großbritannien steht derzeit im Bann der bevorstehenden Volksabstimmung über den EU-Austritt ("Brexit"). Der Verbleib in der Union ist höchst ungewiss, die Entscheidung wird knapp. "Bei einem Brexit verlieren alle; allen tut's weh, aber der große Verlierer wäre Großbritannien", sagte der österreichische Wirtschaftsdelegierte in London, Christian Kesberg, zur APA.

Das Vereinigte Königreich ist wirtschaftlich eng mit dem europäischen Festland verflochten. Die EU ist der mit Abstand größte Handelspartner des Landes. Rund die Hälfte des britischen Außenhandels wird mit der Union abgewickelt: 44 Prozent der Ausfuhren gehen in die EU, 53 Prozent der Einfuhren kommen von dort.

Großbritannien ist auf Importe angewiesen - 2015 beliefen sich die weltweiten Einfuhren laut britischer Statistik (Her Majesty's Revenue & Customs) auf umgerechnet 519 Mrd. Euro, die Ausfuhren aus dem Vereinigten Königreich erreichten nur 386 Mrd. Euro. Daraus errechnet sich für die Briten ein weltweites Handelsbilanzdefizit von 133 Mrd. Euro - 107 Mrd. Euro davon alleine mit der EU. Britischen Exporten in den europäischen Binnenmarkt in Höhe von 169 Mrd. Euro standen im abgelaufenen Jahr Importe von 276 Mrd. Euro gegenüber.

Der Fehlbetrag im Warenhandel mit der EU verdoppelte sich laut britischer Statistik seit 2010 von rund 43 auf gut 85 Mrd. Pfund (107 Mrd. Euro) - das Defizit mit Nicht-EU-Ländern sank hingegen im selben Zeitraum um zwei Drittel auf 20,7 Mrd. Pfund, war also bei annähernd gleichem Handelsvolumen (364 Mrd. Pfund) um rund 75 Prozent geringer.

"Für die Briten wäre ein EU-Ausstieg natürlich schlimmer als für die Union selbst", so Kesberg. Denn nur rund 8 bis 9 Prozent aller EU-Lieferungen sind für das Vereinigte Königreich bestimmt. Als wahrscheinliches Szenario nach einem Brexit gilt eine Zollunion für Warenlieferungen mit der EU. Der riesige britische Finanzsektor hätte aber keinen Zugang zum europäischen Binnenmarkt. "Strafe muss sein", verwies der Handelsdelegierte der Wirtschaftskammer Österreich auf die EU-Position.

Jedenfalls wären die Folgen "netto negativ für die britische Wirtschaft", schätzt der Wirtschaftsdelegierte. "Mittel- und kurzfristig wird es eine Schockwirkung geben - mit ein, zwei Quartalen 'negativem Wirtschaftswachstum'-, aber keine lange tiefe Rezession", erwartet der Marktexperte. Die Wachstumskurve werde abflachen. "Kein Mensch weiß, was nach einem Brexit passieren wird."

Doch so viel scheint klar: Es wird darauf ankommen, welchen Zugang zum EU-Binnenmarkt es danach für die Briten gibt und wie die entsprechenden Verhandlungen laufen. "Vieles hängt von den Handelsabkommen ab", konstatieren etwa auch die Ökonomen des britischen Forschungsinstituts Oxford Economics in einer Analyse vom Mai 2016. Sämtliche Beziehungen zu den Handelspartnern müssten neu geordnet werden.

Bei einem Ausstieg der Briten aus der EU würden sich "die Exporte jedenfalls generell reduzieren und die Importe verteuern", hielt die deutsche Bertelsmann Stiftung bereits 2015 in einer Studie fest. Im - aus britischer Sicht - günstigsten Fall eines "sanften Ausstiegs" erhielte Großbritannien einen ähnlichen Status wie die Schweiz oder Norwegen und hätte somit ein Handelsabkommen mit der EU. Dann gäbe es zwar nicht-tarifäre Handelshemmnisse, aber keine Zölle. Doch selbst bei diesem Szenario "wäre ein Brexit eindeutig ein wirtschaftliches Verlustgeschäft" für das Vereinigte Königreich, sind die deutschen Experten überzeugt.

"Wenn Sie eine Schweizer Lösung anstreben, haben Sie hoffentlich viel Zeit", zitierte Kesberg im Gespräch mit der APA einen Schweizer Botschafter. Die Eidgenossen hätten 16 Jahre für ihre 100 Abkommen gebraucht. Auf der anderen Seite gebe es viele Stimmen in der EU, die sagten: "Nie wieder Schweiz."

Ohne so ein Handelsabkommen käme es im Vereinigten Königreich sowohl zu höheren nicht-tarifären Handelshemmnissen als auch zu Zöllen, wie sie in den Handelsbeziehungen zwischen der EU und den USA gelten. Im ungünstigsten Fall einer kompletten Isolierung Großbritanniens würde das Land darüber hinaus auch sämtliche Privilegien, die sich aus den 38 existierenden Handelsabkommen der EU mit anderen Ländern ergeben, verlieren, wird in der Studie der Bertelsmann Stiftung erklärt.

Ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum würde jedenfalls die Nachfrage nach Waren aus dem Ausland dämpfen. "Das würden auch die österreichischen Exporteure und Österreichs Volkswirtschaft spüren, aber nicht dramatisch", so die Einschätzung Kesbergs. 2015 hatten nur 3,2 Prozent der heimischen Exporte Großbritannien zum Ziel; parallel dazu kamen nur 1,9 Prozent aller österreichischen Importe aus dem Vereinigten Königreich. Österreich erzielte mit dem Land vorläufigen Berechnungen der Wirtschaftskammer zufolge einen Handelsbilanzüberschuss von 1,72 Mrd. Euro.

(GRAFIK 0697-16, Format 88 x 114 mm) (Schluss) kre/tsk

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