12.12.2014 13:10:31

Die EU rückt ihr Augenmerk von der Ukraine weg zum Balkan

   Von Laurence Norman

   Die EU will sich offenbar stärker als bisher auf ihre Wurzeln besinnen. In den vergangenen 18 Monate rieb sie sich sehr stark in der Ukraine-Frage mit Russland auf. Es ging um tiefere wirtschaftliche und politische Beziehungen zu dem Land und zu anderen ehemaligen Sowjetrepubliken - die sogenannte östliche Partnerschaft. Dabei blieben die eigentlichen Beitrittskandidaten vom Balkan nur zu oft außen vor.

   Der Ausgang der Auseinandersetzung ist weiterhin völlig offen - nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Georgien und Moldawien, wo Russlands Druck und Einfluss äußerst spürbar bleiben. Daraus zieht die Kommission jetzt ihre Lehren und setzt sich neue Ziele. Das neue Kommissionsteam will sich stärker in Regionen engagieren, in denen sie wirkliche Macht hat - allem voran auf dem Balkan.

   Die italienische EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn aus Österreich wollen die Region ganz oben auf ihre Agenda setzen. Beide unternahmen erst vor einer Woche eine Reise nach Bosnien, um die politische Pattsituation zu lockern, die das Land seit Jahren auf seinem Weg in die Europäische Union blockiert.

   Die Hindernisse, mit denen Brüssel in diesen Staaten konfrontiert ist, sind erheblich: wirtschaftliche Stagnation, schwere Korruption und Russlands Einmischung. Viele EU-Mitgliedsstaaten sind vor diesem Hintergrund zunehmend skeptisch zu neuerlichen Erweiterungsrunden. Auch die Kommission schließt einen Zuwachs innerhalb der kommenden fünf Jahre aus.

   Dennoch meinen viele Beobachter, dass die EU über die Hebel verfügt, den Balkan auf eine Weise zu verändern, wie es in der Ukraine nicht möglich ist. Die Fähigkeiten von Mogherini und Hahn diesen Einfluss geltend zu machen, werden darüber entscheiden, ob sie bei ihrem Ausscheiden im Jahr 2019 ein bestelltes Feld hinterlassen.

   "Nach einem Jahr, in dem die Ukraine die volle Aufmerksamkeit ebenso verlangt hat wie die Ostpartnerschaft und Georgien", veränderten sich die Akzente, ist von einem hochrangigen EU-Diplomaten zu hören. Auf dem Balkan gebe es eine EU-Tradition, einen Prozess und eine klare Perspektive für Wandel.

   Die Situation in der Region variiert erheblich. Kroatien und Slowenien sind in der EU. Serbien und Montenegro haben Beitrittsgespräche aufgenommen. Albanien und Mazedonien sind in einer Art Kandidatenstatus an die EU gekoppelt. Bosnien kommt nicht recht vom Fleck, während das Kosovo wichtige erste Schritte auf dem Weg zur EU unternommen hat.

   Alle Balkanländer haben zumindest eine klare Aussicht auf EU-Mitgliedschaft. Das gilt sicher nicht für die Ukraine und Georgien. Innerhalb der EU bleibt die grundsätzliche Unterstützung groß, Beitritte der Balkanstaaten stärker zu forcieren - trotz der dort herrschenden Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit, schwache Justizsysteme und die verbreitete Korruption. Die EU ist mit Abstand wichtigster Handels- und Investmentpartner der Region. Hier konkurriert die EU auch weitaus weniger mit Russland als in den Nachfolgestaaten der untergegangenen Sowjetunion.

   "Die EU-Perspektive ist hier überwältigend populär", schwärmt ein EU-Diplomat in der Region. "Die Politiker wissen tief in ihrem Herzen, dass es keine andere Option für sie gibt."

   EU-Projekte und -Hilfen können einen markanten Unterschied in den kleinen Balkanstaaten machen. Im klammen Kiew dagegen versickern die Milliarden aus Brüssel mitunter in irgendwelchen Taschen von Politikern und Bürokraten, klagen manche Beobachter. Für die potenziellen EU-Mitgliedsstaaten Albanien, Bosnien, Kosovo, Mazedonien und Serbien hat Brüssel immerhin fast 4 Milliarden Euro für reguläre Programme, Kredite und Zuschüsse bis zum Jahr 2020 fest eingeplant.

   Wie auch immer die Probleme mit einer EU-Erweiterung aussehen: Es gibt einen breiten Konsens innerhalb Europas, dass der Balkan eine Zukunft im Staatenbund hat. In dem Maße, in dem sich die EU mit Russland in der Ukraine fast schon bekämpft, drängt die deutsche Politik für stärkere regionale Integration, berichten Diplomaten. Ein hochrangiger Balkangipfel gab im August in Deutschland wichtige Investitions- und Reformanstöße.

   Und doch muss die EU ausgeprägte Spannungen erst einmal in den Griff bekommen, um erfolgreich zu sein. Das größte Problem ist es, eine vorsichtig austarierte Balance zwischen einer entgegenkommenden Flexibilität für diese Länder und strikten Reformforderungen zu finden. Die jüngste Bosnien-Initiative der EU ist ein beredtes Beispiel. London und Berlin drückten zusammen mit Mogherini das Land in Richtung eines Beitrittsantrags - und das obwohl in der Verfassung weiterhin der Artikel gilt, dass sich die Präsidentschaft zwischen den drei großen ethnischen Gruppen aufteilt.

   Doch EU-Diplomaten verweisen auf Politiker andernorts in der Region. Diese fragen, warum ihnen weitaus weniger Zugeständnisse bei ihren Beitrittsforderungen gemacht werden. Mittlerweile könnte die Bosnien-Initiative auch - wie so oft vorher - verpuffen, sollten die dortigen Staatslenker ihre Versprechen nicht einhalten und nur EU-Gelder einstecken wollen, die sie erhielten, wenn sie sich für Beitrittsgespräche offen zeigen.

   Die Russlandfrage wiegt nichtsdestotrotz schwer. Einige Beobachter verweisen auf Moskaus alte kulturelle und politische Verbindungen zum Balkan und die russischen Energie- sowie Finanzinteressen in der Region. Vom großen östlichen Nachbarn könnte es deswegen zu Störfeuern kommen. Diese Befürchtung drückte Kanzlerin Angela Merkel vergangenes Wochenende aus. Nicht ganz zu unrecht, wie der mit vielen Fanfaren begleitete Besuch von Präsident Wladimir Putin in Belgrad im Oktober verdeutlicht. Andere sehen in Putins Balkan-Offensive eher den Versuch, Sand ins EU-Getriebe zu streuen, als eine ausgemachte Balkanstrategie Moskaus.

   Manche achten mit Argusaugen auf Veränderungen. Doch für den Moment bleibt Moskau eher ein gelegentliches Hindernis als eine mächtige Einflussgröße. Beobachter verweisen auf das Scheitern der Gaspipeline South Stream, die durch die Region hätte verlegt werden sollen. Putin erklärte das einstige Prestigeprojekt in der vergangenen Woche für tot.

   "Auf dem Balkan kann die EU Dinge bewegen und niemand anders macht ihr diese Rolle streitig", erklärte ein hochrangiger EU-Beamter. Die größte Herausforderung besteht laut dem früheren bosnischen Botschafter in Frankreich - Slobodan Soja - im Wechsel hin zu wirklicher regionaler Kooperation unter den ehemaligen Kriegsgegnern sowie dem, was Hahn als europäische Werte bezeichnet. "Der Balkan und Bosnien wollen in Frieden zusammenleben. Das ist klar", sagt Soja. "Respekt für andere, zumindest als Lippenbekenntnis, ja. Aber auf eine ehrliche und reale Art, das ist weniger klar. Was den Respekt für europäische Prinzipien anbelangt - das ist die härteste Herausforderung."

   Kontakt zum Autor: unternehmen.de@dowjones.com

   Mitarbeit: Naftali Bendavid.

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   December 12, 2014 07:07 ET (12:07 GMT)

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