20.11.2014 13:14:00

Chefs von AK, ÖGB und Wifo fordern wachstumsorientierte Europapolitik

Eine Kehrtwende in der Politik Europas zugunsten mehr Wachstum und Beschäftigung haben am Donnerstag die Chefs von AK, ÖGB und Wifo verlangt. Alle drei knüpfen große Hoffnungen an das von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker avisierte 300-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm, Wifo-Leiter Karl Aiginger sieht aber weder die Projekte noch die Finanzierung geklärt, auch werde es nicht vor 2016 wirken.

AK-Präsident Rudolf Kaske forderte, dass Ziele aus der EU-20-20-20-Strategie wie Beschäftigung, Bildung und Armutsbekämpfung Vorrang bekommen vor der Budgetdisziplin. Auch über eine Evaluierung und eventuell Verschärfung der wirtschaftspolitischen Koordinierung in der EU werde zu reden sein, meinte Kaske bei einer Arbeiterkammer-Tagung in Wien. "Es braucht viele, viele Maßnahmen zur Belebung der Binnennachfrage und der Konjunktur", auch öffentliche Investitionen sollten hier beitragen. Selbst der US-Finanzminister Jack Lew habe Europa jüngst vor einem "verlorenen Jahrzehnt" gewarnt und sich auch kritisch zur "schwarzen Null" in Deutschland geäußert und zur Budgetlockerung geraten.

ÖGB-Präsident Erich Foglar kritisierte, dass jetzt - zur Halbzeitbilanz der 2020-Ziele der EU, eine Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung "nicht mehr richtig zu sehen" sei. Denn der Stabilitätspakt habe eher dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit wachse, die Armut wachse und der Druck auf die Sozialsysteme zunehme. Auch an nötigen Investitionen mangle es. Foglar: "Das einzige was gleich bleibt, sind die Gewinne der Finanzjongleure und die anhaltende Wirtschaftsschwäche", die EU sei mittlerweile die wachstumsschwächste Region der Welt, so der Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. An der mangelnden Koordination sei nicht Brüssel schuld, sondern die 28 Mitglieder, die keine gemeinsamen Wirtschaftspolitik schafften. Zum 300-Mrd.-Programm sei die zentrale Frage: "Wie bringen wir das Geld sinnvoll in die Realwirtschaft in Form von Aufträgen, um damit Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen."

Karl Aiginger vom Wirtschaftsforschungsinstitut - der das Risiko einer Rezession in Europa zum Jahreswechsel 2014/15 mit je einem schwachen 4. und 1. Quartal auf 50:50 einschätzt - nannte das auf drei Jahre angelegte 300-Mrd.-Euro-Programm von Juncker einen "Schritt in die richtige Richtung": "Das könnte ein Neustart sein". Bis zum EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember solle es in Grundzügen stehen, die einzelnen Projekte könnten aber wohl nicht vor Frühjahr 2015 abgesegnet werden und daher nicht vor 2016 wirken. Dass in anderen Töpfen, auch zur Jugendarbeitslosigkeit, viel nicht durch Projekte "abgeholtes" Geld liege, sei blamabel, gab Aiginger zu verstehen und sprach von 50 bis 80 Mrd. Euro allein in den Strukturfonds. Da dürfe sich die EU-Kommission nicht zurücklehnen, sondern müsste aktiv auf ein Ausnutzen drängen.

Der Wifo-Chef ortet auch Probleme, die in der EU-Wirtschaftspolitik zu wenig angesprochen sind. Dies betreffe die Einkommensverteilung als Faktor für die Konsumnachfrage; eine Reorientierung des Finanzsektors samt Finanztransaktionssteuer; das Fehlen eines Sozialpakts als Ergänzung zum Fiskalpakt; eine Entlastung der Realwirtschaft (Faktor Arbeit und Unternehmen).

Würde Europa in eine neue Rezession stürzen, "dann wissen wir, was auf uns zukommt", warnte Aiginger: die Gefahr sozialer Unruhen, populistische Wahlsiege und eine "Lähmung Europas für mehrere Jahre". Bei Budget-Ausgaben und -Einnahmen gehörten die Prioritäten geändert, um mehr Förderung statt Vernichtung von Jobs zu erreichen. Da künftig mit weniger Wachstum zu rechnen sein, müsse der Fiskalpakt durch einen "Social Compact" ergänzt werden, der Energie- und Ressourcenverbrauch absolut deutlich gesenkt, die Work-Life-Balance verbessert und auf eine symmetrische Arbeitsmarktflexibilität geachtet werden, die den Interessen beider Seiten Rechnung trage. "Die Banken werden auch in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht großzügig Kredite vergeben", vermutet der Wifo-Leiter.

Jedes Land - und auch die EU insgesamt - sollte für den 10-Jahres-Zeitraum 2015 bis 2025 Strategien entwerfen, sich ein Realwachstum von 2 bis 3 Prozent jährlich erreichen lasse, aufgeteilt auf die vier Nachfrage-Komponenten Konsum, Investitionen, Exporte und Staatsausgaben, verlangte Aiginger. Dabei gehe es für mehr Konsum um Änderungen bei der Verteilung sowie der Lohndynamik, zugunsten von Investitionen um Vertrauen, bei den Ausfuhren um die Konzentration auf dynamische Märkte und eine Reduktion der Energieimporte.

Für die nötige Finanzierung von Zukunftsinvestitionen in Europa sollten Budgetprioritäten geändert werden - immerhin schichte der Staat 50 Prozent der Wirtschaftsleistung um -, stärker EIB-Kredite verwendet und auch Mittel einer Finanztransaktionssteuer auf kurzfristige Spekulationen genutzt werden. Mit 100 Mrd. Euro jährlich sollten aber "bitte nicht Autobahnen oder Tunnels" finanziert werden. Selbst auf Rennbahnen und Militärausgaben hätten Staaten plötzlich den Fokus gelegt, weil nach der "goldenen Regel" des Fiskalpakts "materielle" Investitionen beim Defizit herausgerechnet werden können. Er sei vielmehr für eine "silberne" Regel, die sich auf immaterielle Investitionen, etwa Humankapital, konzentriere, so Aiginger. Dazu solle "Brüssel" den Rahmen, aber nicht die Details bestimmen können, das erlaube eine rasche und flexible Umsetzung.

Zum Strategiewechsels gehören sollte - neben Nachfrageszenarien, Einkommensverteilung, einem Sozialpakt und einer intelligenteren Konsolidierung ("silberne Regel") - laut Aiginger auch ein Unter-Strafe-Stellen von Steuervermeidung und Steuerschwindel, "auch für Helfer", etwa für "jene, die ein Computerprogramm machen für das Gastgewerbe, damit es weniger Steuern zahlt".

(Schluss) sp/itz

WEB http://www.arbeiterkammer.at http://www.oegb.at

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